Falscher Blutfleck: Jungfernhäutchen to go
Ein Blutfleck auf einem weißen Leintuch – für viele Frauen ein Mal im Monat ein nicht immer vermeidbares Ärgernis. Nach der Hochzeitsnacht kann die An- oder Abwesenheit eines Blutflecks aber in manchen Fällen sogar über Leben und Tod entscheiden. Denn in vielen Kulturen wird auch heute noch vorausgesetzt, dass die Frau um der Familienehre willen als Jungfrau in die Ehe geht. Der Blutfleck auf dem Laken gilt als Beweis. Dabei blutet in der Realität bei Weitem nicht jede Frau beim ersten Geschlechtsverkehr – und wenn, dann nur sehr schwach.
Notlösung für Frauen
Mit dem einsetzbaren Jungfernhäutchen richtet man sich an junge Frauen, "deren Problem es ist, aus traditionellen Gründen ihre Jungfräulichkeit durch Blutspuren in der Hochzeitsnacht vorweisen zu müssen", erklärt Wannisa Srikanjanasuan von VirginiaCare. Das Produkt sei eine günstige "Notlösung" für Frauen, denen "tief greifende Sanktionen" drohen. Das Vortäuschen der Jungfräulichkeit für den Mann sieht man als Notwendigkeit, die nicht zu verurteilen ist. Denn die Situation der betroffenen Frauen sei nicht mit der von anderen jungen Frauen vergleichbar, die eine selbstbestimmte Sexualität leben können.
Was das Produkt nicht leistet, ist, verschiedenste Mythen und Irrtümer bezüglich des Jungfernhäutchens und des ersten Mals aus der Welt zu schaffen und Frauen in ihrer Sexualität zu bestärken. Dafür fühlt man sich bei VirginiaCare auch nicht unmittelbar zuständig: "Es gibt zahlreiche Frauenhilfsorganisationen, die aufklärende Kampagnen führen. Leider zeigen sich patriarchalische Familienangehörige selten einsichtig", sagt Srikanjanasuan. Dort, wo Aufklärungsarbeit auf taube Ohren trifft, könne man mit dem künstlichen Jungfernhäutchen Blutspuren und damit die Sicherheit der Frauen garantieren.
Rekonstruktion mit OP
Die Chance auf eine Blutung erhöhen, jedoch nicht garantieren, kann auch eine operative Jungfernhäutchen-Rekonstruktion. Im Wiener Klinikum Woman & Health führen Gynäkologen mindestens ein Mal pro Woche einen derartigen Eingriff durch, sagt Johannes Seidel, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe bei Woman & Health. Bei der OP werden die Reste des Jungfernhäutchens unter Narkose mit selbstauflösenden Nähten vernäht, sodass eine möglichst hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass man beim ersten Sex nach der Operation blutet.
Das Jungfernhäutchen ist eine ringförmige, dünne Schleimhaut, die bei manchen ausgeprägter ist als bei anderen. Je nach Ausprägung, Stellung beim Sex und Beschaffenheit des Penis blutet die Frau beim Sex, oder nicht.
Dass die Patientinnen, die sich der OP unterziehen, oft von Angst, Selbsthass, Ausweglosigkeit und Bedrohungen durch die eigene Familie getrieben werden, ist Seidel klar. "Wir sprechen die Frauen natürlich aktiv auf diese Problematik an, sie haben aber in der Regel keine andere Wahl. Als medizinisches Zentrum haben wir die Aufgabe, hier zu helfen", sagt Seidel. Es sei nicht die Aufgabe des Ärzteteams "eine Religion zu revolutionieren".
KURIER: In welchem Kulturkreis ist die Tradition der Jungfräulichkeit am stärksten verbreitet?
Elia Bragagna:Jedenfalls nicht nur im islamischen Kulturkreis, sie existiert auch im orthodoxen Judentum, in streng katholischen Familien und kann beispielsweise auch Österreicherinnen mit türkischen Wurzeln betreffen. Vor nicht allzu langer Zeit gab es auch in unserer Gesellschaft einen wahnsinnigen Kult um Jungfräulichkeit und das Jungfernhäutchen.
Was sagt das Aufrechterhalten dieses Mythos über den Stellenwert einer Frau aus?
Es geht dabei um die totale Kontrolle der Frau und ihrer Sexualität. Eine Frau, die nicht unter Kontrolle steht, ist demnach nichts wert. Bei der Hochzeit wird die Kontrolle der Familie über die Frau an den Mann weitergegeben. Wenn die Frau aber bereits Sex hatte, dann bedeutet das, dass sie frei war. Und das wird nicht akzeptiert.
Wie wahrscheinlich ist es, dass Paare vor der Hochzeitsnacht tatsächlich noch nie miteinander intim geworden sind?
Um die Jungfräulichkeit der Frau zu wahren, ist in vielen dieser Beziehungen Analsex ein großes Thema. Doch gerade für Frauen, die ihre Sexualität noch nie frei ausleben konnten, ist diese Praxis nicht wirklich ein Highlight. Viel mehr geben sie der Begierde des Partners so nach. Dabei kommt es immer wieder zu HPV-Infektionen, was bedeutet, dass der Mann bereits zuvor mit einer anderen Frau Geschlechtsverkehr hatte. Auch das ist ein typisches Beispiel der Rollenverteilung.
Wie ist Ihre Einstellung zu einem Produkt wie VirginiaCare oder einer Hymenrekonstruktion?
Sie können eine Notlösung sein, das ändert aber nichts daran, dass dadurch der Mythos des Jungfernhäutchens weiter gespeist wird. Die jungen Generationen aus kulturell patriarchalen Familien werden nicht darum herumkommen, sich gegen diese Tradition aufzulehnen. Parallel zu einem solchen Eingriff oder der Anwendung eines solchen Produkts muss es in der Gesellschaft mehr Aufklärung geben. Auch unser Schulsystem ist gefragt, sowohl Mädchen als auch Burschen zu stärken.
Gibt es für den operativen Eingriff und das künstliche Jungfernhäutchen unterschiedliche Zielgruppen?
Bei dem künstlichen Jungfernhäutchen ist es so, dass ein Großteil das sicher für die Eltern macht, um mit dem blutigen Laken die Unberührtheit zu beweisen und so die Familienehre nicht zu gefährden. Bei einer OP ist das anders, da fühlt sich eine Frau dazu gezwungen, dem Partner zu zeigen, dass sie kein sexuelles Vorleben hatte. Sie verleugnet sich, um von ihm angenommen zu werden. Die Beziehung baut dann auf einer Lüge auf.
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