Behinderte Menschen im Porträt: "Was bedeutet schon normal?"
Nach einem schweren Autounfall musste Katharina Trattner mit Ende dreißig noch einmal ganz von vorne anfangen: ein zweites Mal in ihrem Leben essen, sprechen, lesen und schreiben lernen. Der 60-Jährigen ist es trotz schwerer Gehirnschäden und einer halbseitigen Lähmung gelungen, ihr Leben neu zu erfinden. Nachzulesen ist ihre Biografie in dem Buch „Weil es mich gibt“. Der Autor Stefan Schlögl und der Fotograf Christopher Mavrič haben für dieses 24 ältere Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung getroffen und porträtiert.
KURIER: Was kann man von den Geschichten lernen?
Stefan Schlögl: Dass wir manchmal Dinge und Ereignisse für bedeutsam erachten, die im großen Gesamtgefüge völlig irrelevant sind. Mir war wichtig, keine unmittelbare Betroffenheit auszulösen, sondern diesen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Ihre Geschichten sollen zeigen, wie man mit Lebenskrisen umgeht und dass man sie nur gemeinsam lösen kann.
Die Biografien zeugen auch vom Umgang der österreichischen Gesellschaft mit Behinderten seit 1945.
Ja, sie erzählen davon, wie mit sozial Schwächeren umgegangen wurde – ob mit oder ohne Behinderung. Es hat damals häufig ein Wegschieben, ein Verdrängen und ein Verstecken stattgefunden. Einigen Menschen aus dem Buch ist es so ergangen, weil sie niemanden gehabt haben oder weil die Eltern gar nicht gewusst haben, an wen sie sich wenden sollen.
Wann hat sich die Situation für diese Menschen verbessert?
In den 70er-Jahren sind durch das Engagement von Angehörigen und deren Verwandten und Bekannten Institutionen wie die Lebenshilfe entstanden. Sie haben Möglichkeiten gesucht und auch gefunden, diese Menschen zu integrieren. Davor ist es hauptsächlich um Verwahrung gegangen und nicht um Unterstützung oder Förderung.
Wie sind die Gespräche abgelaufen?
Völlig anders, als ich es bislang als Journalist gewohnt war. Ich bin manchmal vier bis fünf Stunden bei den Menschen gesessen, bis wir eine gemeinsame Sprache gefunden haben.
Das Erstaunlichste für mich war, dass ich auf unglaublich starke Persönlichkeiten getroffen bin, die mich regelrecht geleitet haben. Meine Gegenüber hatten oft recht fixe Vorstellungen davon, wie sie sich selbst, ihre Biografie darstellen wollen.
Das Buch thematisiert die Frage, wie intellektuell Beeinträchtigte würdevoll altern können. Was sind die Herausforderungen?
Da diese Menschen heute aufgrund besserer Versorgung und Förderung älter werden, müssen wir uns mit denselben altersdemografischen Herausforderungen auseinandersetzen, mit denen auch wir konfrontiert sind. Neben dem Bedarf nach spezieller Pflege haben sie zu ihrer intellektuellen Beeinträchtigung – wie andere alte Menschen auch – mitunter chronische Beschwerden, beispielsweise Diabetes. Dazu kommen spezifische Erkrankungen. Menschen mit Trisomie 21 hatten noch vor 30 Jahren eine Lebenserwartung von etwa 35 Jahren. Mittlerweile können sie bis zu 60 werden, leider ist bei dieser Gen-Mutation die Gefahr einer Demenz sehr hoch. Es braucht dann ganz andere Pflege- und Betreuungsstrukturen als im normalen Altersheimbetrieb.
Was nehmen Sie persönlich aus dieser Erfahrung mit?
Am Ende dieses Buches habe ich mich gefragt: "Wer ist jetzt eigentlich normal und wer ist behindert?" Mit der Frage, was Normalität ist, beantwortet sich für mich auch die Frage, was Integration ist. Integration bedeutet ja nicht, dass ich irgendjemanden als normal anerkenne, sondern dass jeder Mensch ganz selbstverständlich Teil unserer Gesellschaft ist.
Ausstellung: Mit Behinderung alt werden
Vor etwa zwei Jahren hat der Fotograf Christoper Mavrič für ein Projekt rund 30 beeinträchtigte Menschen fotografiert, die in Einrichtungen der Lebenshilfe in der Steiermark betreut werden. Der Journalist und Autor Stefan Schlögl wollte die Geschichten hinter diesen Gesichtern erzählen. So entstand mit finanzieller Unterstützung der Lebenshilfe das Buch "Weil es mich gibt".
Bis zum 3. Februar zeigt das GrazMuseum (Mi - Mo von 10 -17 Uhr) eine Auswahl der Texte und Bilder in der Ausstellung "Alt werden. Porträts von Menschen mit Behinderung".
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