Spätabtreibung: "Behinderung ist Spielart des Lebens"
Wenn werdende Eltern erfahren, dass sie ein behindertes Kind erwarten, stellt sie das vor eine der schwierigsten Fragen ihres Lebens. Denn bei einer auffälligen Diagnose erlaubt das Gesetz eine Abtreibung bis kurz vor der Geburt. Schätzungen zufolge entscheidet sich der Großteil der Betroffenen für den Abbruch der Schwangerschaft. In seinem Dokumentarfilm "Die dritte Option", der am 15. September in ausgewählten Kinos startet, nimmt sich der österreichische Regisseur Thomas Fürhapter des Themas an und wirft die Frage auf, wie wir als Gesellschaft mit den immer genaueren Möglichkeiten der Pränataldiagnostik umgehen wollen.
KURIER: Wie sind Sie auf das Thema Spätabbrüche gestoßen?
Thomas Fürhapter: Ausschlaggebend war wohl die Geburt meiner Tochter, die heute acht Jahre alt ist. Als meine Lebensgefährtin damals schwanger war, bin ich zu den pränatalen Untersuchungen immer mitgegangen. Ich habe mir die Frage gestellt, wie das bei mir war. Ich bin 1971 geboren und noch nicht pränatal untersucht worden. Damals hat das Schicksal entschieden, ob man ein behindertes Kind bekommt oder nicht. Anfang der 80er wurde die Pränataldiagnostik flächendeckend eingeführt. Bevor ein Kind heute auf die Welt kommt, wird es gescreent und auf Normabweichungen hin kontrolliert. Ich habe mich dann weiter damit beschäftigt, was Pränataldiagnostik eigentlich ist und wohin sie in letzter Konsequenz führen kann, wenn man das zu Ende denkt.
Kommt die öffentliche Debatte darüber zu kurz?
Ja, das war auch ein Grund, warum ich den Film machen wollte. Wenn es thematisiert wird, dann anhand von individuellen Schicksalen. Es wird etwa eine betroffene Frau interviewt, die ihren Leidensweg erzählt und argumentiert, dass es sich um die Entscheidung der einzelnen Frau handelt. Dabei ist das Thema von Haus aus ein gesellschaftspolitisches, das erst im Nachhinein individualisiert wird.
Haben Sie sich deshalb dazu entschieden, Statements von betroffenen Frauen, Ärzten und Ethikern durch eine Stimme aus dem Off vortragen zu lassen, statt sie zu zeigen?
Ja, weil ich das Thema nicht auf einer individuellen Ebene behandeln wollte. Ganz am Anfang habe ich überlegt, ob ich überhaupt Betroffene im Film haben will oder nicht. Aus Gründen der Aufmerksamkeit und Dramaturgie habe ich mich dann dazu entschieden, die Geschichte eines betroffenen Paares zu erzählen, weil das wie ein roter Faden durch den Film führt. An diesen kann man sich immer wieder anklammern, wenn man bei einer theoretischen Passage aussteigt. Und es erzählt schon auch, wie sich vorhandene Strukturen auf Individuen auswirken.
Wie fühlen sich Eltern, die vor so einer Entscheidung stehen, und welche Faktoren fließen in diese ein?
Sie fühlen sich natürlich grauenhaft und es ist eine Entscheidung, die man niemandem zumuten will. Was sie beeinflusst, ist das Bild, das wir alle von Behinderung haben. Die Vorstellung, dass Behinderung etwas Furchtbares ist und eigentlich nur Leid bedeutet. Das geht so weit, dass man glaubt, dass diese Menschen gar kein lebenswertes Leben haben. Davon ist ein Spätabbruch ein Ausdruck. Es kommen dann außerdem Vorstellungen dazu, dass man dieses Kind ständig betreuen muss oder die Frage, wie es ihm in der Schule oder in der Arbeit einmal geht. Ob es mit sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung konfrontiert wird.
Was steckt hinter dem Wunsch nach einem gesunden Kind?
Der Wunsch nach Normalität, der im Umkehrschluss aber heißt, dass man hofft, dass das werdende Kind nicht behindert ist. Es findet häufig eine Gleichsetzung von gesund und normal und behindert und krank statt, obwohl das so nicht immer stimmt. Dazu kommen soziale und ökonomische Abstiegsängste von Eltern, wenn sie sich dazu entscheiden, ein behindertes Kind zu bekommen.
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Pränataldiagnostik und dem gesellschaftlich negativen Bild von Behinderung?
Bei der Pränataldiagnostik wird auf Grundlage einer Verunsicherung angeboten, Sicherheit herzustellen. Wenn sich bei dieser Untersuchung aber herausstellt, dass wirklich etwas ist, dann folgen immer weitere Untersuchungen, bis etwas gefunden wird oder auch nicht. Das Erleben einer Schwangerschaft ist dadurch viel angstbesetzter geworden. Es geht in gewisser Weise um eine Normierung nach bestimmten Vorstellungen, wie ein Mensch zu sein hat. Es ist ein Ausdruck dafür, dass Pluralität und Diversität nicht wirklich hoch angesehen sind. Dabei ist Behinderung eigentliche eine Spielart des menschlichen Lebens.
Ist für Eltern die Behinderung oder die Behindertenfeindlichkeit das größere Problem?
Generell wird es immer schwieriger, sich für ein behindertes Kind zu entscheiden, weil eine Behinderung in unserer Gesellschaft immer stärker als eine Abweichung von der Norm gesehen wird. Für eine bestimmte Gruppe von Menschen, die wir als Behinderte bezeichnen, gibt es in der Gesellschaft letztlich keinen Platz. Sie haben in ganz vielen Bereichen Nachteile und das bekommen auch Eltern zu spüren, die ein behindertes Kind zur Welt bringen. Angefangen vom Kindergarten bis hin zur Schule und der Beantragung von Beihilfen haben sie mit allerhand Hürden zu kämpfen und werden nicht selten komisch angeschaut.
Warum haben Menschen ein Bedürfnis, normal zu sein oder in eine Norm zu passen?
Eine große Rolle dabei spielt das generelle Menschenbild. Wir haben Vorstellungen davon, wie ein normaler Mensch auszusehen hat. Der hat ganz banal gesagt zwei Arme, zwei Beine, kann sehen, hören, denken, kommunizieren, mobil sein und ist in der Lage, normale Gefühle zu empfinden.
Was ist aus Ihrer Sicht der Kern der Kritik an Spätabbrüchen?
Es handelt sich um eine Auswahl anhand ganz bestimmter Kriterien, Gesundheitskriterien. Wenn es möglich wäre – und das ist jetzt eine reine Fiktion –, ein Ungeborenes nach Hautfarbe auszuwählen, würden sich viel mehr Menschen darüber aufregen. Denn es ist offensichtlich, dass das eine Selektion ist, die rassistisch ist. Bei Behinderung wird das aber nicht so verstanden.
Pränataldiagnostik (PND): Der Fötus wird während der Schwangerschaft auf Anzeichen von Behinderung untersucht. In Österreich gibt es den Begriff der embryopathischen Indikation. Diese legt fest, dass bei einer Diagnose einer schwerwiegenden Fehlbildung oder Behinderung des Fötus bis zum Einsetzen der Wehen ein Abbruch durchgeführt werden kann.
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