Zum Tod von Gerhard Roth: Wer würgt heute noch an Österreich?
Es ist eine oft gebrauchte Formulierung in Nachrufen: Er oder sie wird eine große Lücke hinterlassen.
Im Fall von Gerhard Roth, der am Dienstag im Alter von 79 Jahren verstorben ist, ist es beileibe keine Floskel. Er war ein unermüdlicher Hinschauer und als literarischer Chronist der österreichischen Wirklichkeit. Dabei ging es Roth nie um ein vordergründiges Provozieren. Exemplarisch sei seine „Reise ins Innere von Wien“ genannt. Er erforschte die dunklen Stellen, auf die sonst wenig Licht fällt. An Orten wie dem Männerwohnheim in der Meldemannstraße, in dem Hitler mehrere Jahre wohnte, fand Roth Erhellendes über die Abgründe der österreichischen Seele.
Debatten verlagert
Seine Bücher lösten Debatten aus. Zum Beispiel 1995, als Roth in seinem Roman „Der See“ einen Anschlag auf einen populistischen Politiker beschrieb. Das rief die FPÖ auf den Plan, die in dem „Hoffnungsmann“ genannten Politiker Jörg Haider erkannt haben wollte. Damals war ein veritabler Kulturkampf im Gange, den die Partei gegen heimische Literaten führte. Elfriede Jelinek wurde sogar auf einem Wiener Wahlplakat angegriffen.
Immer seltener beschäftigen mittlerweile die Hervorbringungen der Autoren und Autorinnen die Debattenseiten. Ein Grund dafür mag darin zu suchen sein, dass sich die Debatten in die sozialen Medien verlagert haben. Mehr und mehr bestimmen der Algorithmus oder die Wahl der jeweiligen Blase den Medienkonsum. Und dort kommen die Literaten selten vor – wenn sie dort überhaupt sein wollen.
Beschimpfung
„Das Fette, an dem ich würge: Österreich.“
Stellen wir uns kurz vor, der berüchtigte Handkesche Aphorismus wäre eine Twitternachricht (wenn Handke auf Twitter wäre): Mit Sicherheit macht ein Medium dazu einen Online-Artikel, irgendein Politiker unterstellt – ebenfalls auf Twitter – „Nestbeschmutzung“ eines „Staatskünstlers“, andere Medien folgen dem Thema. Für einen Tag jagen die Leserzahlen hoch, aber spätestens dann ist die Aufmerksamkeit beim nächsten Reizthema.
Freilich ist die gute alte Österreich-Beschimpfung auch nicht mehr das, was sie einmal war. 2015 bediente sich Regisseur und Autor David Schalko noch einmal in diesem weiten Fundus: „Warum sollte man sich über ein Land aufregen, das von jeher zu einem Großteil aus Debilen und Nazis bestand? Jetzt fehlt noch die Gewaltbereitschaft, dann ist Österreich bei sich“, postete er im Jahr der Flüchtlingskrise auf Facebook.
Das erinnerte an Thomas Bernhards „sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige, die ununterbrochen aus vollem Hals nach einem Regisseur schreien.“
Die österreichische Nachkriegsliteratur wurde berühmt mit dem unaufhörlichen Stochern in den offenen Wunden des Landes. Mitte der 1980er-Jahre fand das Nagen am österreichischen Opfermythos seinen Höhepunkt. Nach der Waldheim-Affäre und im „Bedenkjahr“ zum 50. Jahrestag des „Anschlusses“ an Nazi-Deutschland kam die Uraufführung von Bernhards „Heldenplatz“ im Burgtheater genau zur richtigen Zeit. Ein wahrer Theaterskandal folgte auf den Fuß.
Peter Handke
Als er 2019 den Nobelpreis erhielt, wurden Rechnungen aus den 1990er-Jahren beglichen, als Handke „Gerechtigkeit für Serbien“ forderte
Thomas Bernhard
Ein Buh/Jubel-Orkan im Burgtheater, eine Fuhre Mist davor. „Heldenplatz“ war Höhepunkt seiner Übertreibungskunst, die so übertrieben gar nie war
Amanda Gorman
Mit „The Hill We Climb“ wurde ein Gedicht plötzlich weltweit rezipiert. Es folgten Kontroversen, ob auch Weiße ihren Text übersetzen dürfen
Michel Houellebecq
Mit Romanen wie „Unterwerfung“ gilt der Franzose als Parade-Provokateur, der Nationalismen nicht scheut. Zuletzt in "Vernichtung" scheinbar altersmilde
Elfriede Jelinek
Die Nobelpreisträgerin hält Österreich literarisch den Spiegel vor, was ihr Hass einbringt. Veröffentlicht ihre Texte im Netz, meidet aber soziale Medien
Neue Generation
Nun scheint das Land, nach sehr viel notwendiger und schmerzhafter Aufarbeitung, zumindest diese Lektionen überwiegend gelernt zu haben. Zudem ist mehr und mehr eine schriftstellerische Generation am Werk, die zwar diese Kontroversen miterlebt hat, nicht aber das notorische Verschweigen selbst.
Stefanie Sargnagel ist eine Literatin aus dieser Generation, die es noch am ehesten versteht, die Tradition des Bürgerschrecks weiterzuführen. Das liegt jedoch zum Gutteil daran, dass sie die sozialen Medien versteht und deshalb einzusetzen vermag. Wenn hingegen Autoren wie Robert Menasse via Facebook eine Kontroverse auslösen, wirkt das mitunter ungelenk. Oder es ist purer Zufall, als etwa bekannt wurde, dass im Account des früheren ÖVP-Wien-Chefs Gernot Blümel ein kritisches Menasse-Posting gelöscht wurde.
Systemrelevant
Und was ist eigentlich mit dem Theater? – „Über das Theater regt sich heute sowieso niemand mehr auf“, sagte Entertainer Harald Schmidt – der gerade ein kulinarisches Buch über Thomas Bernhard veröffentlichte – kürzlich in einem ORF-Interview. Und er fügte hinzu: „Als ich auf der Schauspielschule war, hieß es: Macht das Schweinesystem kaputt!“ Heute, in Pandemiezeiten, werde die Kunst plötzlich als „staats- oder systemrelevant“ bezeichnet.
Hinter dem augenscheinlichen Zynismus liegt auch eine gewisse Wahrheit – was die Rezeption der Kunst betrifft. Doch just mit einem Auftritt bei einem Staatsakt, der Amtseinführung Joe Bidens als US-Präsident, schaffte es die afroamerikanische Lyrikerin Amanda Gorman im Vorjahr, weltweit Gehör zu finden – mit einem Gedicht über das schwierige Erbe Amerikas.
Man sah auch: An den großen Themen mangelt es nicht, siehe auch „Black Lives Matter“, und leider – siehe Erstürmung des Kapitols – auch nicht an Ressentiments.
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