Die letzte Begegnung mit Gerhard Roth, dem großen Chronisten, fand am 1. August 2021 statt – in Kopreinigg bei St. Ulrich, wo er längst zum „Heimatdichter“ geworden war. Denn vielfach hatte er die südsteirische Landschaft und ihre Menschen beschrieben. Der einst stattliche Mann saß in der Veranda des alten Winzerhauses, die Hände gefaltet, und war nur mehr ein Schatten seiner selbst.
Krankheiten und Verletzungen hatten sein Leben bestimmt. „Ich hatte 15 oder 16 Mal einen Gips. Knöchelbruch, Kreuzbandriss, Armbruch. Als Kind bin ich mit dem Schaukelpferd in der Laube vom Gartentisch gefallen und hab’ mir den Ellbogen ausgerenkt. Ich hatte zwei schwere Gehirnerschütterungen. Aber ich war bei all den Verletzungen nüchtern. Betrunken ist mir nie was passiert“, erzählte Roth einmal. „Mit 15 Jahren bekam ich als Fußballtormann einen Tritt in die rechte Niere. Seither ist sie vier Fingerbreit gesenkt.“
"Sterben ist leicht"
Bereits mit 21 Jahren hatte Roth einen Herzstillstand. „Und der letzte Gedanke war: Sterben ist leicht.“ Sein Vater, ein Arzt, hat ihn gerettet. „Das Fenster stand offen. Und das Erste, was ich nach dem Aufwachen hörte, war ein Motorengeräusch. Ein Auto hielt an, die Tür wurde zugeschlagen. Jemand sagte: ,Heute war ein schöner Tag. Wir sehen uns! Servus!‘ Das gab mir Kraft. Sogleich hatte ich den Wunsch, gesund zu werden.“
Roth ließ sich nie unterkriegen. Auch in den letzten Jahren nicht. Trotz Schienbeinbruch, Lungenembolie, Bandscheibenvorfall, Magenoperation. Das Schreiben war ihm immer die größte Hilfe: „Zuerst habe ich meine Krankheit akzeptiert – und kurz darauf wieder weitergearbeitet.“ Er hatte immer Projekte: Sie trieben ihn an, und er brauchte sie, um nicht zu verzweifeln. So war es auch im Hochsommer 2021. Roth hatte erst kürzlich seinem Verlag, S. Fischer, das Manuskript „Die Imker“ geschickt.
Der Roman, erzählte er, knüpfe an seinen großen Erfolg „Landläufiger Tod“ an. Er sei der erste Teil einer Trilogie (über den Untergang der Welt inklusive einer Jenseitsreise) wie auch ein Resümee seines Autorenlebens – in der Diktion des Erzählers Franz Lindner. Erscheinen werde der Roman kurz vor seinem 80. Geburtstag am 24. Juni. Und im Greith-Haus, einem multifunktionalen Veranstaltungszentrum, würden seine Venedig-Fotos zu sehen sein.
Erleben wird er dies nicht mehr: Der Vater des Filmregisseurs Thomas Roth und der Casting-Agentin Eva Roth starb am Dienstag in seiner Heimatstadt Graz.
Gegenüber der Mülldeponie
Dass Roth Schriftsteller wurde, war nicht vorgesehen. Nach dem Willen seines Vaters inskribierte er 1961 Medizin, doch nach einigen Jahren er brach er das Studium ab. Von 1966 bis 1977 arbeitete er als Programmierer und Organisationsleiter im Computerrechenzentrum, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ab den frühen 70er-Jahren veröffentlichte er experimentelle Prosa und Theaterstücke („Lichtenberg“, „Sehnsucht“, „Dämmerung“).
Sein Vater verzieh ihm. „Aber es hat ihn geschmerzt. Mit meinen ersten drei Romanen, darunter ,Die Biografie des Albert Einstein‘ und ,Künstel‘, konnte er wenig anfangen. Sie waren auch sehr kompliziert. Aber er hatte sie immer am Nachtkastl liegen.“
Die Beziehung wirkte sich auf das literarische Werk aus. Denn der Vater war der NSDAP beigetreten, die Nachkriegszeit daher nicht einfach: „Uns haben sie die Wohnung weggenommen“, erzählte Roth einmal. Die Familie lebte daher in Gösting am Grazer Stadtrand: „Gegenüber der Mülldeponie. Die ganze Zeit brachten die Lastwägen den Müll. Wenn ein Sturm war, hingen an den Ästen der Bäume Zeitungsseiten. Bei Hitze war Gestank.“
Roth forschte viel über die Vergangenheit. Ein Vorschuss des Verlags ermöglichte es ihm schließlich, sich ganz auf die Arbeit an den „Archiven des Schweigens“ zu konzentrieren. 1980 erschien „Der stille Ozean“: In diesem ersten Roman, der in der Gegend rund um St. Ulrich spielt, gibt der Arzt Ascher – zweifellos ein Alter Ego – nach einem Kunstfehler seinen Beruf auf und zieht in ein leer stehendes Bauernhaus in der Südsteiermark. Und dort wird er zum Beobachter einer ihm zunächst fremden Welt.
1984 folgte „Landläufiger Tod“ – als weiterer Teil des monumentalen Zyklus „Die Archive des Schweigens“, an dem er bis 1994 arbeitete. Es folgte sogleich ein zweiter Zyklus – mit dem Titel „Orkus“ (1995 bis 2011). Und so ging es weiter. Roth notierte immer alles ganz genau – mit dem Kugelschreiber in seine Schreibhefte und mit der Fotokamera. Die „Reise in das Innere von Wien“ und sonst wohin ist zu Ende; die Literatur von Roth wird bleiben.
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