Womit will Michel Houellebecq jetzt aufhören?
Über den letzten Satz in seinen Dankesworten am Ende des Buchs wird man noch reden wollen / müssen:
„Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören.“
Womit aufhören?
Mit dem Leben? Schreiben? Provozieren? Oder mit dem Rauchen? (Interviews haben nichts klar gemacht.)
Michel Houellebecqs Held Paul stirbt am Kieferkrebs. Es braucht jedenfalls keine Terroristen, die es gibt im Buch, um vernichtet zu werden.
Spatz
Vielleicht war „Serotonin“ 2019 sein letztes Buch mit einem Widerling in der Hauptrolle, in der ganz und gar unfaire Leser Züge des Autors zu erkennen glauben: sexistisch, rassistisch, nationalistisch, antiliberal, schwulenfeindlich ...
Im neuen, recht plötzlich veröffentlichten Roman „Vernichten“ braucht Michel Houellebecq das Böse nur noch im Hintergrund.
„Vernichten“ spielt während der französischen Präsidentschaftswahl des Jahres 2027 und kommt rechtzeitig zur französischen Präsidentschaftswahl heuer im April.
Houellebecq – 63 ist er oder 65, er verheimlicht es – hat aber wenig beizutragen.
Die Mittelschicht verschwindet, es gibt nur noch Arm und Reich, ländliche Gemeinden sterben, die Kluft zwischen Regierenden und Bevölkerung wird größer ... keine gewagten Prognosen diesmal.
Zu einem Teil will „Vernichten“ Philosophisches bieten. Wobei das nach viel klingt, sich Michel Houellebecq aber auch mit solchen Gedanken beschäftigt:
Wie kann eine Ehefrau angesichts ihres alt gewordenen Ehemannes, sein Haar schütter, Bauch hat er auch ... wie kann sie zu dem Kerl noch „SPATZ“ sagen?
Über die Vorzüge der Seitenlage beim Sex wird ebenfalls laut nachgedacht.
Zum anderen gibt sich das Buch als Thriller. Wobei vor allem Chaos in der Welt vorgeführt wird:
Im Internet kursiert ein Trickfilm, in dem ein Politiker geköpft wird. In China werden Containerschiffe gesprengt. Auf Spermienhändler wird ein Anschlag verübt. Ein Flüchtlingsboot wird torpediert, Überlebende werden erschossen ...
Hexenkunst
Der Assistent und Vertraute des Wirtschaftsministers – das ist der 50-jährige Paul Raison mit dem Kieferkrebs – interessiert Houellebecq mehr. Bei ihm und dessen Familie legt sich der Autor ins Zeug; und punktet. Da ist er stark. Da kann er von Eheproblemen erzählen (Pauls Frau liest das „Magazin für Hexenkunst“), von Liebe gar, Einsamkeit, Schlaganfall, Kieferkrebs und Tod.
Der Wahlkampf in Frankreich und weltweiter Terror scheinen in Houellebecqs achtem Roman nur Tarnung zu sein, um ein zärtlicher, mitfühlender Autor sein zu können.
„Vernichten“ kam überraschend. Erst Ende Oktober 2021 hatte sich Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire gemeldet – er steht dem Schriftsteller nahe, im Roman kandidiert Le Maire unter dem Namen Bruno Juge (und ist sympathischer als Emmanuel Macron).
Le Maire verriet: Ein Thema werde die Verteidigung der Industriebranche sein.
Aber geh. Sind im Buch nur ein paar Sätze. Aber vielleicht wird’s damit etwas nächstes Mal. Wenn’s ein nächstes Mal gibt.
Foto oben: Vom Regisseur getragen: Michel Houellebecq spielte in Guillaume Nicloux’ Film „Thalasso“ mit
Michel
Houellebecq: „Vernichten“
Übersetzt von Stephan
Kleiner und Bernd Wilczek.
DuMont Verlag.
621 Seiten.
28,95 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
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