"Würgeengel“ im Volkstheater: Reenactment mit Lecture-Performance
In den Grundzügen ist der Film „Der Würgeengel“ von Luis Buñuel aus 1962 nicht anderes als eine surrealistische Variation des Einakters „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre aus 1944, den Martin Kušej im Februar als Kommentar auf die Lockdowns in der Pandemie für das Burgtheater inszeniert hat: Da wie dort geht es um die Isolation, um „eine veränderte Wahrnehmung von Zeit, die sich in einer zur Ewigkeit gedehnten Gegenwart bleiern über die Menschen legt“.
Bei Sartre könnten die Figuren, die sich das Leben zur Hölle machen, entkommen, da die Tür zum Schluss offensteht. Sie tun es aber nicht. Bei Buñuel hingegen entflieht die Abendgesellschaft dem Kerker, einer Villa. Was aber nichts bringt, wie sich in den letzten Minuten des Meisterwerks herausstellt.
Der Schlüssel zur zwischenzeitlichen Freiheit ist ein Reenactment: Irgendwann sitzen die Personen in der gleichen Konstellation wie zu Beginn beisammen. Intuitiv spielen sie die Begebenheit nach – und der Alpraum ist vorerst beendet.
Das Volkstheater hat den Schwarz-Weiß-Film nun nachgestellt – in Grellbunt. Denn für das Bühnenbild (das Wort ist eine Untertreibung) hat man den Bildhauer Tobias Rehberger verpflichtet, dessen Cafeterias (z. B. im zentralen Pavillon der Biennale Venedig) faszinierende Reizüberflutungen sind. Direktor Kay Voges folgte also auch diesbezüglich dem Burgtheater: Eine Gurkerl-Skulptur des Bildhauers Erwin Wurm dominiert auf der Bühne für „Geschlossene Gesellschaft“.
An dem prächtigen, mit illusionistischen Grafiken verzierten und mit riesigen Spiegeln bekrönten Rehberger-Labyrinth samt Lichteffekten kann man sich nicht sattsehen. Das ist gut so. Andernfalls würde man sich sehr leicht langweilen. Denn Sebastian Baumgarten hat doch nicht nur den Film nacherzählt und die deutsche Synchronfassung um aktuelle Small-talk-Themen (Bevölkerungsexplosion, Giftstoffe und ein funktionierendes Maschinensystem) ergänzt: Er strich Entscheidendes (Buñuel war nicht nur Atheist, sondern auch Katholik) und motzte die Handlung in Zwischenspielen mit einer völlig unverständlichen Hamlet-Geschichte auf.
Eigentlich müsste man jedem Besucher die Presseinformation in die Hand drücken. Im normalen Programmblatt findet man ja keinen Hinweis darauf, dass es sich bei den Einschüben auf der Vorbühne um ein „Theaterstück“ von Buñuel handelt. Und man findet auch keine Erklärung für den sonderbaren Vogel, der gegen Ende hin auftaucht (als Vorlage diente Christina Schmitt „Der Hausengel“ von Max Ernst).
Nach den Rechten sehen
Zudem ist die Kenntnis des Films angeraten. Bei der Nachstellung wird nämlich auf dem Klavier das gleiche Stück wie zu Beginn gespielt. Baumgarten hingegen hat diese Darbietung durch eine Lecture-Performance (Yoko Ono mit dem Film No. 4 aus 1966) ersetzt. Im Reenactment aber wird, total unlogisch, geklimpert ...
Das Ensemble, darunter Julia Franz Richter, fügt sich auf der Dauerdrehbühne stoisch in das artifizielle Spiel. Mitunter kann man schmunzeln, etwa wenn der Oberst (Andreas Beck) meint, dass er nach den Rechten schauen müsse. Doch viel mehr als die grandiose Bühne und das packende Sounddesign (Giorgio Mazzi) hat der Abend nicht zu bieten.
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