„Wer verteidigt die Pfütze?“ Olafur Eliasson und seine App für Kinder
„Sie wollten kein Brahms-Konzert auf Reisen schicken und auch keine Bronze auf einem öffentlichen Platz – und auch nicht unbedingt einen Deutschen als Künstler“, sagt Olafur Eliasson. „Und mein Ziel war, etwas wie einen öffentlichen europäischen Raum zu schaffen.“
Der dänisch-isländische Künstler, der beim Video-Interview mit dem KURIER in seinem Büro in Berlin sitzt, wurde im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit einem Werk beauftragt. Herausgekommen ist eine Augmented-Reality-App für Kinder: Mit „Earth Speakr“ können User ihre Mimik auf ein cartoon-artiges Gesicht übertragen, eine kurze Botschaft aufnehmen und diese dann auf ein Objekt vor der Handy-Kamera projizieren. Bäume, Mistkübel oder Spielzeuge, aber auch selbst gezeichnete Bilder können auf diese Art zum Sprechen gebracht werden.
Malkasten im Digitalraum
„Es ist eher eine Werkzeugkiste oder ein Malkasten“, erklärt Eliasson zu der App, die bereits rund 300.000 Mal heruntergeladen wurde. „Ich habe wenige Vorgaben gemacht. Die Idee – , die Erde redet’ – reicht schon als Anstoß. Einige Kinder sprechen in ihren Botschaften über Autos oder Fußball, aber in 95 Prozent der Fälle geht es um die Umwelt.“
Ökologischer Aktivismus ist seit Langem ein wichtiger Aspekt im Werk von Eliasson, der mit seinen Projekten sowohl den elitären Kunstmarkt als auch ein breites Publikum zu begeistern vermochte. Bisher waren es aber eher weithin sichtbare Spektakel, mit denen der Künstler von sich reden machte: In der Londoner „Tate Modern“ ließ er 2003 eine künstliche Sonne aufgehen, unter der New Yorker Brooklyn Bridge und vor Schloss Versailles installierte er 2008 bzw. 2016 künstliche Wasserfälle, zum Jahrestag des Pariser Klimaabkommens ließ er 2018 riesige Eisblöcke öffentlich wegschmelzen.
Diese Werke – wie auch die elaborierten Spiegel- und Lichtarbeiten, die zuletzt 2016 im Belvedere-Winterpalais in Wien gezeigt wurden – waren immer schon ideal positioniert für ein zweites Leben in den Handys kunstsinniger Selfie-Touristen. Dass ein Werk nun aber rein im digitalen Raum Form annimmt, war auch für Eliasson neu.
„Statt am Reichstag oder am Eiffelturm ist der öffentliche Raum jetzt im Garten, am Weg zur Schule oder – nicht zuletzt in einer Lockdown-Zeit – im eigenen Zimmer“, sagt er. Erwachsene sollen die Botschaften, die in der App als kleine Blasen auf einer Landkarte positioniert sind, abrufen – Eliasson arbeitet, u. a. mithilfe der Goethe-Institute, daran, die Botschaften an Entscheidungsträger weiterzugeben.
Dass die Cartoon-Gesichter bei „Earth Speakr“ vor dem geschulten Kennerauge vielleicht nicht als hehre Kunst bestehen, ist für Eliasson da zweitrangig. „Kultur ist ja nicht nur oben auf der Pyramide, sie ist überall. Die Kultur bietet uns einen sicheren Raum an, um schwierige Diskussionen zu führen.“
Die Natur spricht
Das tiefere Thema, das Eliasson mit „Earth Speakr“ anschneiden möchte, ist der Umstand, dass natürliche Entitäten wie Bäume, Flüsse oder Tiere in den meisten politischen Systemen keine Rechtspersönlichkeit haben: Sie sind als Objekte da, um ausgebeutet zu werden. Im Gegensatz dazu hat in Ländern wie Ecuador ein teils mit Indigenen besetztes Parlament bereits entsprechende Verfassungsänderungen herbeigeführt: Ein verbauter Fluss hat hier etwa Anspruch auf Entschädigung.
„Unsere Kinder werden sich damit auseinandersetzen müssen, in einer nicht menschenzentrierten Welt zu agieren“, sagt Eliasson, der generell dafür plädiert, Kinder viel ernster zu nehmen. „Doch wer verteidigt die Pfütze oder die Bergziege? Sie muss sprechen können. In Kinderfilmen ist es ganz selbstverständlich, dass alles spricht.“
Dass digital belebte Wesen am Schulweg und gesichtserkennende Programme oft Einfallstore für die datensammelnde und -verwertende Industrie sind (siehe z. B. „Pokemon Go“), ist Eliasson dabei bewusst: Er verbürgt sich dafür, dass bei seiner App Daten von Kindern nicht gespeichert und weitergegeben werden. Denn nicht zuletzt bedeutet Kinderschutz auch Datenschutz.
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