"Virginia Woolf" im TAG: Karaoke und Kampfkunst am Kühlschrank
Es ist die Urmutter aller Vier-Personen-Konversationskriege in der Theaterliteratur. Edward Albees Stück "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?", uraufgeführt 1962, war damals ein richtiger Schocker und brannte sich nicht zuletzt durch die Hollywood-Verfilmung mit Elizabeth Taylor und Richard Burton ins kulturelle Gedächtnis ein.
Wie also verfahren mit einer Art von Theater, das vor den großen Revolutionen an den Universitäten entstand und mit Stücken wie Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ längst noch kompromisslosere Traditionsnachfolger im Demaskieren bildungsbürgerlicher Rituale bekam?
Regisseurin Susanne Lietzow entschied sich dazu, den Text behutsam zu aktualisieren. Da verirrt sich schon das eine oder andere „Arschloch“ hinein, oder der Whisky auf Eis wird im allseitigen Saufexzess zum „Wixie“.
Es geht aber noch immer darum: Der Geschichtsprofessor George und seine Frau Martha, seit zwei Jahrzehnten verheiratet, kehren in der Nacht von einer Feier zurück. Die beiden haben schon einigen Alkohol getankt, trotzdem muss George erfahren, dass Martha noch ein jüngeres Paar, das ebenfalls auf der Party war, eingeladen hat, und zwar den neuen Biologieprofessor Nick und seine Frau „Sweetie“.
George, ohnehin an der Uni des übermächtigen Schwiegervaters zum Verlierer gestempelt, lässt die Wut über den Alleingang seiner Frau an den Gästen aus. Vor allem der junge, muskulöse Nick soll durch zynische Gesellschaftsspiele intellektuell aufs Glatteis geführt werden.
Karaokeabend
Albees Motiv des Gesellschaftsspiels wird immer wieder mit im Stile eines Karaokeabends gesungenen Popsongs aufgenommen. Wobei die einsamen Seelen der Protagonisten im Gesang am besten zum Ausdruck kommen. „Sweetie“, der der Alkohol am schnellsten in die Beine fährt, schwingt sich gegen Ende noch zu richtiger Breitwand-Balladenkunst auf, in dem sie Celine Dions „Titanic“-Song „My Heart Will Go On“ schmettert.
Die vier Schauspieler dürfen sich zudem als Halbgötter des Gemetzels betätigen. Minutenlang liefern sie einander eine Martial-Arts-Orgie, die sehr ansehnlich choreografiert (Michael Kovac, Ricky Sky) und ausgeführt ist. Irgendwo zwischen Jackie Chan und Bud Spencer-Filmen angesiedelt, wird hier gewrestlet und gekickt, bis die Knochen knacken. Dargestellt wird das durch cartoonhafte Soundeffekte, die allerdings ein bisschen dumpf klingen. Dieser Höreindruck entsteht auch bei den eingespielten Lachern, die am Ende die Albeesche Ehehölle ins Groteske überzeichnen.
Schauspielerisch sind keinerlei Schwachpunkte zu vermelden. Jens Claßen gibt den George, der seine scheinbare intellektuelle Überlegenheit auskostet, angemessen blasiert. Michaela Kaspar glänzt als frustrierte Martha, die dem jungen Nick den Kopf verdreht und sich stets kampfeslustig gibt. Das junge Paar, Lisa Schrammel und Raphael Nicholas, zeigt naturgemäß weniger Konturen, bildet aber eine ansehnliche Folie, auf der die Gastgeber ihre bösen, aber letztlich armseligen Spielchen treiben können.
Kühlschrank-Skyline
Apropos Folie: Mehrere durchsichtige Bahnen bilden einen Plastikvorhang hinter der von Marie-Luise Lichtenthal gestalteten Bühne. Dahinter stehen beleuchtete Kühlschränke, die eine Art Skyline am Horizont einer in Eis erstarrten Gesellschaft bilden. Rache ist bekanntlich ein Gericht, dass man am besten kalt serviert.
Das „Willst du den totalen Krieg?“ von George hat in dieser Bühnenversion überlebt, dafür wäre an anderen Stellen die eine oder andere Streichung wohltuend gewesen. Vielleicht sind mehr als zwei Stunden Theater ohne Pause aber auch deshalb anstrengend, weil man sich wieder daran gewöhnen muss, dass Spannungsbögen nicht über maximal 50 Minuten gezogen werden, wie in den in Lockdownzeiten so populären Streamingprodukten.
Starkes und amüsantes Schauspielertheater, das für viele echte Lacher im Publikum sorgt. Und für lang anhaltenden Applaus.
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