Es ist schon ungewöhnlich, wenn das Thema Übersetzen so viel mediale Aufmerksamkeit erfährt, wie in den vergangenen Wochen. Im Zentrum hitziger Diskussionen stand die Frage: Darf, soll, kann eine weiße Person den Text einer schwarzen Autorin übersetzen?
Ausgangspunkt war das Gedicht „The Hill We Climb“ der jungen US-amerikanischen Poetin Amanda Gorman, die ihr Werk bei der Angelobung von Joe Biden vorgetragen hatte – und dem US-Präsidenten damit beinahe die Show gestohlen hat. Der niederländische Verlag Meulenhoff hat daraufhin die weiße, nicht-binäre Autorin Marieke Lucas Rijneveld mit der Übersetzung beauftragt. Eine Entscheidung, die die Journalistin und Aktivistin Janice Deul in der niederländischen Tageszeitung Volkskrant kritisiert hat: Eine schwarze Übersetzerin könne sich besser in die Gedankenwelt der ebenfalls schwarzen Gorman hineinversetzen.
Die Wogen gingen hoch, Rijneveld legt den Auftrag daraufhin freiwillig zurück. Wenig später wurde dem katalanischen Übersetzer Victor Obiols der Auftrag entzogen, mit der Begründung – so berichtet er selbst – er habe nicht das richtige Profil: Er ist weiß und 60 Jahre alt. Die Angelegenheit beschäftigte daraufhin traditionelle wie soziale Medien.
Das Original
Die 23-jährige Poetin Amanda Gorman war der heimliche Star der Angelobung von US-Präsident Joe Biden, wo sie das viel beachtete Gedicht „The Hill We Climb“ über die harte soziale Realität in den USA vortrug
Niederländisch
Der niederländische Verlag Meulenhoff beauftragte Autorin Marieke Lucas Rijneveld mit der Übersetzung. Rijneveld legte den Auftrag nach einem Shitstorm zurück
Katalanisch
In Spanien wurde dem katalanische Übersetzer Victor Obiols der Auftrag zur Übersetzung vom Verlag wieder entzogen, weil er nicht das passende Profil habe
Deutsch
Der Verlag Hoffmann und Campe hat gleich drei Übersetzerinnen eingesetzt: Autorin Kübra Gümüşay, Journalistin Hadija Haruna-Oelker und Literaturübersetzerin Uda Strätling
Entfachte Wut
Entstanden ist eine Debatte, die „sehr viel Wut auf unterschiedlichen Seiten entfacht hat“, wie Michèle Cooke, Translationswissenschaftlerin von der Universität Wien, im Gespräch mit dem KURIER erklärt. Cooke, die in Sri Lanka geboren wurde, in London aufgewachsen ist und seit 1977 in Österreich lebt, betont, dass sie „Kategorisierungen – ,weiß‘, ,schwarz‘, ,dunkelhäutig‘, ,hellhäutig‘ – ablehne. Allerdings: Weil wir so kategorisiert und wahrgenommen werden, ist es leider notwendig, diese Bezeichnungen zu verwenden. Aufgrund der Zuschreibung als ,dunkelhäutig‘ beziehungsweise ,Person of Colour‘, habe ich andere Erfahrungen gemacht als ,Weiße‘ und es gilt für mich, diese Unterschiede zu erkennen und zu thematisieren.“
Michèle Cooke ist Übersetzerin und lehrt und forscht seit 1992 am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Zusammenhang zwischen Translation, Kognition und Emotion sowie die Übersetzung von Kunst und Wissenschaft.
Die Einschätzung, dass eine weiße Person die Erfahrung von Amanda Gorman nicht nachvollziehen könne, teile sie jedoch nicht: „Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass alle Menschen – wenn sie miteinander kommunizieren wollen – in der Lage sind, etwas am Leben des oder der anderen zu verstehen“, meint Cooke. „Zu sagen, ich bin ,dunkelhäutig‘, 66 Jahre alt und wenn ich ein Buch schreibe, darf das nur jemand übersetzen, der mein Leben gelebt hat – das geht nicht.“ Man müsse eine gemeinsame Basis finden, die Kommunikation und Übersetzen ermögliche. „Dabei spielt die ,Hautfarbe‘ keine Rolle. Und ich sage das als ,dunkelhäutige‘ Frau, die ihr Leben lang in unterschiedlichen Gesellschaften gelebt hat, die ,weiß‘ dominiert sind. Wenn ich davon ausgehen würde, dass nur Menschen, die so aussehen, wie ich – was auch immer das bedeuten mag – mich verstehen können, dann würde ich emotional verhungern.“
Beim Übersetzen gehe es vor allem um Empathie. „ÜbersetzerInnen haben gelernt, zu versuchen, die Welt durch die Augen einer anderen Person zu sehen. Das ist die Essenz des Übersetzens und eigentlich auch der menschlichen Kommunikation.“
Hohe Kompetenz
Die Annahme, eine weiße Person könne den Text einer schwarzen Autorin nicht übersetzen, kann man auch in der Praxis, bei den heimischen Literaturübersetzern, nicht nachempfinden, wie Mascha Dabić erklärt. Sie ist selbst Literaturübersetzerin und Vorstandsmitglied der IG Übersetzerinnen Übersetzer. „Die Arbeit von LiteraturübersetzerInnen erfordert eine hohe Kompetenz. Es geht nicht nur darum, ein Werk zu verstehen, sondern auch darum, bestmöglich zu versuchen, es in einer anderen Sprache umsetzen, unabhängig von den Merkmalen, die man als Mensch mitbringt“, so Dabić.
Mascha Dabić übersetzt Literatur aus dem Balkanraum, arbeitet als Dolmetscherin im Asylbereich und lehrt an den Universitäten Wien und Innsbruck.
Wird etwa das Werk eines lebenden Autors übersetzt, sei man mit diesem auch häufig in Kontakt, um Fragen zu klären. „Meine Erfahrung ist, dass AutorInnen generell an einem Austausch sehr interessiert sind. ÜbersetzerInnen sind besonders sorgfältige LeserInnen, die eine Textstelle nicht einfach überspringen können. Da muss an jeder Formulierung gefeilt werden.“
Dabić sei „klar, dass der Angriff nicht gegen LiteraturübersetzerInnen ging, aber er hat sie als Kollateralschaden gestreift.“ Das empfinde sie als problematisch, da Literaturübersetzer, die ohnehin nur wenig verdienen würden, nicht die Mächtigen in diesem Gefüge seien, sondern die Verlage. Gleichzeitig verstehe sie, „was Janice Deul zum Thema Diversität sagen wollte und das hat auch seine Berechtigung“.
Tabu Rassismus
Translationswissenschaftlerin Cooke plädiert dafür, Deuls Kritik ernstzunehmen: „Ich glaube, ihre Hauptbotschaft war: Es gibt so viele ÜbersetzerInnen, die ,dunkelhäutig‘ sind. Dies wäre eine großartige Gelegenheit, seitens des Verlags, eine ,dunkelhäutige‘ Person als ÜbersetzerIn zu nehmen, um zu zeigen, dass es uns auch gibt.“
Rassismus, so Cooke, sei systemisch in unserer Gesellschaft. „Wir alle sind davon geprägt, so wie wir alle vom Sexismus geprägt sind. Über Sexismus kann man heutzutage reden, Rassismus ist aber noch tabuisiert.“ Zu denken, mit einem selbst hätte das nichts zu tun, sei eine wohltuende Illusion: „Wenn man in einem rassistischen System aufgewachsen ist, dann hat man das inne, auch ich, und der Rassismus wird fortbestehen, solange wir nicht den Mut aufbringen, uns zu fragen: Wie gehe ich damit um? Wie sehe ich das? Die Sache mit Amanda Gorman und der Übersetzung wäre eine tolle Gelegenheit gewesen, ehrlich darüber nachzudenken .“
Auch wenn sie zu einer starken Polarisierung geführt habe, kann Cooke der Debatte dennoch Positives abgewinnen: „Unterm Strich finde ich es gut, dass man überhaupt darüber redet. Vieles wurde missverstanden. Aber ich denke, Missverstehen ist besser als Ignorieren.“
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