Wegweiser durch den Kulturkampf: Von Identität, Denkmalsturz bis zum "Mohren"-Streit
Manche Diskussionen sind schwierig nachzuvermessen.
Man weiß nicht: Hat man es mit einem gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchprozess zu tun?
Oder mit argumentatorischen Scheinriesen, die, je mehr man sich ihnen nähert, umso unwichtiger und kleiner werden?
Eine dieser schwer zu gewichtenden Debatten ist der online schwelende Kulturkampf, dessen gemeinsamer Nenner – dazu gleich mehr – die Identität ist. Diese Debatte ist in viele Lebensbereiche vorgedrungen – aber bei Weitem nicht im Zentrum der Gesellschaft angekommen. Wie wichtig ist sie demnach? Die Nachrichten, die von ihr in die Mitte herüberschwappen, klingen wie eine Mischung aus akut drohender Diktatur, längst überfälliger Entkrustung und Sommerloch.
Zensur! Phobie!
Die jüngsten Beispiele:
Autoren beklagen in einem offenen Brief drohende Zensur von links. Nicht in China, sondern in Amerika und Europa.
Und: Es wird hitzig verlangt und hitzig abgelehnt, bestimmte Wörter – etwa den „Mohr“ – einzumotten, um niemanden zu beleidigen.
Und: Donald Trumps Anhänger sagen: Wird der Präsident abgewählt, ist er Opfer nicht eines demokratischen Prozesses, sondern der „linksfaschistischen“ (ja, das Wort gibt’s noch!) „Cancel Culture“ geworden. Die will erreichen, dass unliebsame Figuren (auch historische in Form von Denkmälern) aus der Öffentlichkeit „gelöscht“ werden.
Und: Der „Harry Potter“-Autorin Joanne K. Rowling wird vorgeworfen, transsexuellenfeindlich zu sein.
Wie das alles etwa auch mit den Antirassismus-Protesten und den Denkmalstürzen zusammenhängt? Wer hier verwirrt ist, ist nicht allein. Im Folgenden ein einordnender Wegweiser durch das Dickicht der Identitätspolitik.
Der zentrale Begriff: Die Identität
Darum dreht sich alles: Im Zentrum all dieser Debatten steht die Identität, als Weißer, als Schwarzer, als Hetero- oder Homosexueller, als Liberaler oder Konservativer, als Stadt- oder Landmensch, als Frau, als Mann oder nichts bzw. alles davon.
Ja, und weiter?
Jede dieser Gruppen fordert selbstbestimmte Würde allein wegen ihrer Identität ein. Sie wollen festlegen, wie über sie gesprochen wird und wo ihr Platz in der Welt ist. Ausgegangen ist das alles von liberalen US-Universitäten. Das aufschlussreichste Buch dazu: Francis Fukuyama, „Identität“. Für viele schwierig zu fassen ist diese Debatte, weil das in Österreich unauslöschlich eingebrannte politische Rechts-Links-Schema bei der Bewertung scheitert. Denn auch als linksliberal verbuchte Gruppierungen übernehmen hier die traditionelle Argumentation der Nationalisten: Es geht nicht darum, was jemand aus sich macht oder erreicht hat. Sondern ausschließlich darum, was er ist. Und was man ist, bestimmt man wiederum selbst durch Behauptung.
Aber was soll damit erreicht werden?
Bei den Nationalisten geht es um identitätsbegründete Überlegenheit: „Meine Bevölkerungsgruppe ist besser als die anderen.“ Bei der Identitätsdiskussion aber geht es um das Beenden von Unterlegenheit. Jede Gruppe fordert, nicht mehr diskriminiert zu werden, weder sprachlich noch gesellschaftlich.
Warum also soll ich nicht „Mohr“ sagen?
Die Machteinforderung von unten funktioniert zumeist über die Sprache. Die Diskriminierten verbieten den Diskriminierenden das Wort. Die jüngste Diskussion um den „Mohren“ ist ein Beispiel von vielen: Alte und neue Herrschaftssprache soll abgeschafft werden. Von den Betroffenen als unwürdig empfundene Wörter sollen aus dem Sprachgebrauch verschwinden.
An dieser Front des Kulturkampfes erreicht man mit wenigen Mitteln viel: Geht es um vermeintliche Einschränkungen der Sprache, reagieren viele Menschen mit übermäßiger Wut. Plötzlich gibt es laute Stimmen, die jedes kaum noch gebrauchte Wort oder die Namen von Unternehmen bzw. Produkten verteidigen, als ginge es zumindest um den Untergang des Abendlandes. Und so erlangt eine kleine Debatte großes Aufsehen – und übergroße Wirkung.
Und warum will man Denkmäler entfernen?
Auch hier gilt: Denkmäler für historisch nicht astreine Figuren sollen aus der Öffentlichkeit verbannt werden, andernfalls sie die Würde Betroffener verletzen können. In Wien geht es da aktuell u. a. um das Lueger-Denkmal. Eine Debatte um Denkmäler und Straßennamen mit NS-Bezug gibt es jedoch schon länger.
Was soll das bringen? Und wem?
In der sogenannten „Cancel Culture“, einer Ausformung der Identitätspolitik, ist jede geortete Verfehlung ein Grund, aus der Geschichte, der Debatte, dem Berufsleben „gelöscht“ zu werden. Das betrifft nicht nur historische, sondern auch aktuelle Figuren. Hier knüpft einer der großen Kritikpunkte an der Identitätsdebatte an: Dass nämlich deren kompromisslosen Maßstäbe nicht zu den unweigerlichen Schattierungen des Menschseins passen. Dagegen haben sich die Autoren in ihrem erwähnten offenen Brief gewandt: Abweichende Meinungen oder auch ambivalente Biografien würden vollständig abgelehnt, verbreitete Widersprüchlichkeiten nicht zugelassen und offene Diskussion eingeschränkt. „Wir müssen uns die Möglichkeit einer Meinungsverschiedenheit ohne schlimme berufliche Konsequenzen erhalten“, heißt es in dem offenen Brief.
Ist das alles mehr als eine Studentenspinnerei?
Es ist zuvorderst eine neue Form des Protests, eine gesellschaftliche Bewegung, die sich gegen die Etablierten richtet. Dass dies den Angesprochenen nicht passt, liegt in der Natur der Sache. Das war bei früheren Protestbewegungen genau so: Der Grad der Ablehnung verweist durchaus darauf, dass hier wunde Punkte getroffen werden. Wo überall Diskriminierung aufgezeigt wird, rührt an schmerzlichen Orten der Gesellschaft. Obwohl etwa Europa die „Black Lives Matter“-Debatte vielleicht ein wenig zu willig übernommen hat. Es ist leichter, sich mit der kleinen Minderheit der hiesigen Schwarzen zu solidarisieren als mit jenen großen Gruppen, über die man schmerzhafte Integrationsdebatten führen könnte, allen voran die türkische.
Was sind die Auswirkungen von all dem?
Groß und winzig zugleich. Identität bestimmt weltweit die Politik, von Trumps Appell an die Zukurzgekommenen bis zur hiesigen Flüchtlingsdebatte. Damit gewinnt man Wahlen. Dort aber, wo die Diskriminierten selbst die Identitätsdebatte führen, sprechen einflussferne Schichten mit voneinander höchst divergierenden Interessen. Ihr realer Einfluss ist dementsprechend klein.
Wozu also die Aufregung über all das?
Die Debatte emotionalisiert höchst unterschiedliche Gruppen – und Emotion lässt sich nützen: Sie ist die harte Währung der Politik. Auch wenn hier zumeist stumpfe Waffen (wen muss es wirklich kümmern, was Facebooknutzer so posten?) mit umso mehr Geschrei geschwungen werden: Die Debatte rund um Minderheiten, Diskriminierung, Sprache und Geschichtshoheit lässt sich von allen Seiten hervorragend instrumentalisieren. Dementsprechend lange wird sie uns begleiten.
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