Ihre Gesichter verbergen sie hinter Plexiglasvisieren, einige von ihnen treiben eine fast nackte Gestalt in Fesseln vor sich her. Ein schwarz gekleideter Kinderchor intoniert einen Popsong. Ein Bub mit einem schwarzen Luftballon tritt auf.
Eine mystische Frauengestalt
Das Szenario mutet wie ein Verschnitt aus „Blade Runner“ und „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ an, der in Gotham City spielt. Doch im Volkstheater geht es nicht um Batman, da trifft nicht Ridley Scott auf Orson Welles, sondern Anna Bergmann auf Ödön von Horváth. Genuin führt die deutsche Regisseurin dessen Komödie aus dem Jahr 1933, „Die Unbekannte aus der Seine“, in die Gegenwart und Zukunft.
Ausgangspunkt für Horváths Krimi war die Totenmaske einer jungen Frau, die nach 1900 leblos aus der Seine geborgen worden war. Ein Pathologe war von deren Gesichtsausdruck so fasziniert, dass er davon eine Maske anfertigte. In Künstlerkreisen war es bald angesagt, eine Kopie dieses Objekts zu besitzen. Darauf spielt auch Horváth an.
Ihn hat diese Maske zu einer mystischen Frauengestalt inspiriert. Diese erscheint mitten in der Nacht auf der Straße und beobachtet, wie Albert einen Uhrmacher, bei Bergmann eine Uhrmacherin, in einem dunklen Haus meuchelt und beraubt.
Verstörend gute Vorstellung
Sie verschafft ihm ein Alibi, will aber dafür seine Zuwendung. Bei Horváth geht sie ins Wasser, um den Verbrecher nicht zu verraten. Bei Bergmann wird sie von Albert ertränkt. Er kehrt zu Irene, seiner Ex-Geliebten, einer Blumenhändlerin, zurück und wird Vater eines Sohnes.
Das Verblüffende an Bergmanns Deutung ist, dass sie sehr frei mit Horváths Text umgeht und sich dennoch ganz nah an diesem Autor bewegt. Mit Versatzstücken aus dessen „Geschichten aus dem Wienerwald“, „Glaube, Liebe, Hoffnung“ und Texten von Christine Lavant zeigt sie ein Pandämonium von verlorenen Seelen, die desperat versuchen, aneinander Halt zu finden.
Wie ein Subtext schwebt Horváths Hang zum Aberglauben ständig mit. Mit ihren Regieeinfällen geht Bergmann großzügig um. Bei einem Polterabend etwa lässt sie den Bräutigam, der bei ihr Männern zugetan ist, als Braut in weißen Strümpfen auftreten, sein Gegenüber tritt wie eine Marvel-Comicfigur auf. Das ist nur ein Moment dieser Bilderflut, die eine starke Sogwirkung entwickelt, wenn man sich ganz darauf einlässt.
Gespielt wird ausgezeichnet. Lucas Gregorowicz zeigt Albert feinnervig und wandelt sich famos zum feigen Pseudo-Biedermann. Birgit Unterweger überzeugt als Unbekannte in Großprojektion und als Verführerin auf der Bühne. Christoph Schüchner ergänzt famos als Ernst.
Sona MacDonald zeigt die Uhrmacherin als dämonische Gestalt, die das Geschehen singend kommentiert. Auch die anderen im Ensemble, vor allem Uwe Schmieder als Wirtin und Nick Romeo Reimann als Emil, verdienen wie diese gesamte verstörend gute Aufführung zurecht viel Applaus.
Kommentare