„Vienna Calling": In Wien kann man lustvoll untergehen

EsRAP sind die beiden Geschwister Enes Özmen und Esra Özmen aus Wien-Ottakring, sie verbinden in ihren Songs Rap mit orientalischen Sounds
Seit Jahren blicken die Deutschen neidisch nach Österreich. Vor allem nach Wien, wo die Musikszene besonders lebendig (und speziell) ist, wie die Kino-Doku zeigt

Eine „magische Nacht in Wien“ brachte den deutschen Filmemacher Philipp Jedicke zu seinem jüngsten Projekt. „Ich wurde damals nach einem Wanda-Konzert von sehr lieben Wienerinnen und Wienern durch diverse Beisln geschleift. Und ich hatte das Gefühl, überall ist hier Musik. Ich war fasziniert und wollte meinen Enthusiasmus teilen“, sagt Jedicke dem KURIER.

Das machte er dann auch – zuerst aber als Autor von diversen Artikeln. Beim Schreiben sei ihm dann auch klar geworden, dass er das Thema auch filmisch behandeln müsse, wie der 46-jährige Deutsche erzählt. Das nun in ausgewählten heimischen Kinos zu sehende Ergebnis heißt „Vienna Calling“. Geworden ist es eine gelungene Doku, in der sich Jedicke auf die Wiener Musikszene abseits ausgetrampelter Pfade bewegt. Es werden also weder Falco-Archivaufnahmen gezeigt, Mozart-Denkmäler besucht, noch die ewig gleichen Akteure und Experten dazu befragt. Jedicke wählt einen etwas anderen, durchaus auch eigenwilligen, aber vor allem unvoreingenommener Blick auf die Wiener Musikszene – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Bei der Auswahl der Akteure sei er allein seinem Gefühl gefolgt – „manchmal auch meinem Geschmack“, wie er sagt. Im Rahmen seiner zahlreichen Wien-Aufenthalte habe er folgende Besonderheiten der Szene ausmachen können: „Die im Film vorkommenden Wiener Künstlerinnen und Künstler sind kompromisslos in dem Sinne, dass sie nicht versuchen zu gefallen. Sie ziehen ihr Ding durch – konsequent und nachhaltig. Und sind darum interessant.“

Brautmoden

Ein Grund für den jüngsten Aufschwung heimischer Acts im benachbarten Ausland (vor allem in Deutschland) sei eine „Sich nichts scheißen“-Mentalität. „Das ist etwas, das uns Deutschen meines Erachtens oft abgeht. Wenn wir schon in die Verallgemeinerungskiste greifen, würde ich sagen: Viele Deutsche wollen – aufgrund von was auch immer – gefallen und bloß niemanden vergraulen. Davon nehme ich mich selbst nicht aus“, so Jedicke.

Die Dreharbeiten zum Film haben zum Großteil vor der Corona-Pandemie stattgefunden. Während der Lockdowns sei natürlich wenig gegangen: „Wirklich fertig waren wir dann aber erst kurz vor der Weltpremiere in Graz im März dieses Jahres“, sagt Jedicke, der kein Unbekannter im Dokumentation-Genre ist.

„Vienna Calling": In Wien kann man lustvoll untergehen

Überall nur Baustelle: Als Kerosin 95 veröffentlicht die sich als geschlechtsneutrale Person sehende Rapperin und Schlagzeugerin Kathrin Kolleritsch seit Jahren Musik

 

 

In seinem Kinodebüt „Shut up and play the piano“ widmete er sich gleich mal dem exzentrischen kanadischen Musiker Chilly Gonzales. In „Vienna Calling“ gibt es aber nicht nur einen, sondern viele Protagonisten, die Jedicke unaufgeregt mit der Kamera begleitet. Er wollte Wien so zeigen, wie er es erlebt habe – „als einen nur scheinbar bekannten, jedoch in Wahrheit fremden, sogar exotischen Ort. Als eine unberechenbare und manchmal rätselhafte Stadt, in der man sich treiben lassen, verlieren und lustvoll untergehen kann“.

Zwielichtige Ecken

Und so begleitet man u. a. den Nino aus Wien zu einem Friseurbesuch (bei Erich), sieht Voodoo Jürgens beim Malen zu, begleitet Esra und Enes Özmen von der Band EsRap zum Videodreh, und geht mit Kerosin95 Brautkleidkaufen.

Jedicke blickt in „Vienna Calling“ über den üblichen Musikdoku-Tellerrand und liefert eine gelungene Momentaufnahme einer gerade im Aufschwung befindlichen Wiener Musikszene. Gezeigt werden aber auch jene herrlich zwielichtigen Ecken, für die man Wien so liebt.

Wer lieber „Austropop – von Mozart bis Falco“ sehen will, sollte besser ins Wiener Theatermuseum gehen. Dort läuft noch bis 4. September die dazugehörige Ausstellung.

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