In Colm Tóibíns Roman „Marias Testament“ erzählt Maria, die Mutter von Jesus, Jahre nach der Kreuzigung nicht nur ihre Version der Geschichte ihres Sohnes, sondern auch über das Leben der Christengemeinde als politisch Verdächtige in ständiger Lebensgefahr. Lisenka Heijboer Castañón kennt dieses Buch zwar nicht. Aber es passt genau zur Intention, die auch „The Gospel according to the Other Mary“ verfolgt - das Oratorium von John Adams, das sie an der Volksoper inszeniert. „Es geht darum, die bekannte Geschichte der Passion ihren üblichen Erzählern und der Institution der Kirche zu entreißen. Einen neuen Blick darauf zu werfen. Es gibt so viele Marias in der Bibel, aber keine davon darf ihre Geschichte erzählen.“ Und wie auch bei Tóibíns Roman wird hier der Aspekt, dass Jesus und seine Gefolgschaft politisch unerwünschte Aktivisten waren, in den Fokus gestellt.
Die „andere Maria“ ist im Stück eine Mischung aus Maria Magdalena und Maria von Bethanien (der Schwester von Lazarus). Letztere betreibt gemeinsam mit ihrer Schwester Martha ein Heim für arbeits- und obdachlose Frauen – „das sind im Grunde auch alle Marias“, erklärt Heijboer Castañón. Um diesen Marias eine Stimme zu geben, hat Peter Sellars für das Libretto des Oratoriums eine Collage aus verschiedenen Gedichten von hauptsächlich Frauen, aber mit durchgehend feministischem Blickwinkel zusammengestellt. Das sind Texte von so unterschiedlichen Stimmen wie Hildegard von Bingen, June Jordan, Primo Levi, Louise Erdrich und Dorothy Day.
Katholische Kommunistin
Letztere verkörpert für Heijboer Castañón überhaupt in ihrer Person die Aussage des Stücks. Day (1897-1980) war eine katholische Kommunistin, die die Catholic-Worker-Bewegung gegründet hat und als höchst aktive Frauenrechtlerin und Pazifistin im Kampf gegen Ungerechtigkeit immer wieder inhaftiert wurde. Zuletzt wurde sie noch mit 75 Jahren festgenommen, weil sie die Farmarbeiterstreiks in Kalifornien in den frühen Siebzigerjahren unterstützte. Ein Seligsprechungsverfahren läuft nun schon seit fast 25 Jahren, erst kürzlich zählte Papst Franziskus sie in einer Rede über große Amerikaner/innen neben Abraham Lincoln und Martin Luther King auf. Heijboer Castañón sagt: „Sie war eine wirklich radikale Aktivistin und eine radikale Christin.“
Heijboer Castañón mag das Wort Zeitlosigkeit im Bezug auf Musiktheater nicht, weil sie es für überstrapaziert hält. Aber im Fall von „The Gospel according to the Other Mary“ macht sie eine Ausnahme. Ob der Gazakrieg, der allein durch die historische Verortung der Geschichte hier in den Sinn kommt, eine Rolle spielen wird? „Da kann sich jede Zuseherin, jeder Zuseher selbst ein Bild machen. Aber die Situation, dass Menschen, die für ihre Rechte, für ihre Zukunft, ihre Existenz kämpfen, Polizeigewalt ausgesetzt sind – das ist doch gerade weltweit sehr präsent. Es ist interessant: Wir sind darauf trainiert, mit Unterdrückten mitzufühlen, wenn wir sie in einem fiktiven Werk sehen, aber wenn wir im echten Leben damit konfrontiert sind, fühlen wir uns unwohl.“
Niederländer lieben die Passion
Eine Herausforderung für die Regisseurin ist, dass der Charakter des Jesus in dem Stück gar nicht existiert: Er kommt immer nur als Erwähnung und Erzählung vor, und im Grunde „sind wir alle Jesus“. Die Oratoriumform des Stücks behagt Heijboer Castañón aber sehr: „Dass die Geschichte nicht linear erzählt wird wie bei einer Oper, das gibt mir viele Möglichkeiten, es ist nicht so stark vorgegeben, was man zeigen und sehen muss.“ Vielleicht kommt ihre Vorliebe für das Oratorium aber auch daher, dass dieses Genre in den Niederlanden eine ganz besonders innige Tradition hat. „Im Concertgebouw werden vor Ostern sechs verschiedene Matthäuspassionen in zwei Wochen gebracht. Allein in Amsterdam werden so viele Passionen aufgeführt, die kann man sich gar nicht alle anhören. Ich habe schon als Kind - ich habe Violine gespielt – mehrmals die Johannespassion in der Schule aufgeführt. Es gibt so etwas wie die Passions-Saison. Alle europäischen Sängerinnen und Sänger wissen das – da verdienen sie ihr Geld.“
Fantastisch schrecklich
Das ist wohl auch der Grund, dass das TV-Spektakel „Die Passion“, das nun bereits zwei Mal auch auf RTL zu sehen war, seinen Ursprung in den Niederlanden hat. Es verbindet die Bibelgeschichte mit Popsongs und Letztem Abendmahl mit Döner. „Ja, ich hasse es und ich liebe es. Es ist fantastisch und schrecklich. Man kann ja über Geschmack streiten, aber als Event ist es wild und riesig. In gewissem Sinn macht diese Show dasselbe wie wir: Die Geschichte von Jesus den Menschen zurückgeben. Ich glaube, wenn man bei so einer Veranstaltung war, geht man nicht weg, ohne sich zu fragen: Was hätte ich getan?“
Lisenka Heijboer Castañón sagt von sich selbst: „Ich glaube, aber ich kann nicht sagen, woran.“ Sie ist selbst nicht religiös, und die Arbeit an „The Gospel according to the Other Mary“ hat das auch nicht geändert. Aber: „Der Algorithmus meiner Sozialen Medien glaubt jetzt, ich bin eine fanatische Christin geworden.“
"The Gospel according to the Other Mary" hat am Samstag in der Volksoper Premiere, Folgetermine 18., 21., 24., 30. Juni
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