Er beginnt so: „Die Künstlerin Teresa Feodorowna Ries wurde am 30. Jänner 1874 in Moskau in eine wohlhabende jüdische Familie geboren. In ihrem Nachlass befindet sich ein 1888 im Konsulat in Moskau ausgestellter österreichisch-ungarischer Reisepass, in dem sie sich mit dem Geburtsdatum 30. Jänner 1866 und dem Geburtsort Budapest älter gemacht hat.“
Rattengift für den Zaren
Dies ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Und Valerie Habsburg, die ehemalige Studentin, kann das hinlänglich beweisen: „Wir haben mehrere Unterlagen mit dem Geburtsjahr 1866 und dem Geburtsort Budapest, u. a. die Eintragung ins Geburtsregister, fünf Meldezettel aus Wien und die Sterbeurkunde aus Lugano. Wir haben auch den Auszug aus dem Trauungsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien: Terese Ries hat am 21. Juni 1885 Ottokar Löwit, einen Bierbrauer aus Prag, geheiratet. Und sie hat diesen Namen später, im Exil, verwendet.“
Die Künstlerin, kurz TFR, hat sich also nicht älter, sondern wurde von Wladika um acht Jahre jünger gemacht. Und mehrfach im Text zur Russin, wiewohl sie in Österreich-Ungarn geboren worden war und ein perfektes Deutsch sprach.
Valerie Habsburg, Jahrgang 1982, ist die Ururenkelin von Kaiser Franz Joseph. Nach der HTL besuchte sie die Prager Fotoschule in Kefermarkt und die Schule Friedl Kubelka für künstlerische Photographie in Wien. Von 2017 an studierte sie an der Akademie der bildenden Künste bei Dorit Margreiter und Heimo Zobernig. In einem Seminar von Simone Bader war die Autobiografie „Die Sprache des Steines“ von TFR aus 1928 eine der Grundlagen: „Ich habe sie über Nacht verschlungen, war gepackt und habe zu recherchieren begonnen.“ Zusammen mit anderen Künstlerinnen ging sie jeder Spur nach. Daher kann sie mit enorm vielen Fakten aufwarten: „Die Mutter hieß Bertha, geborene Stern. Und ihr Vater, Gutmann Ries, war Chemiker, Pharmazeut und Drogist. Er dürfte dem Zaren – laut einem Zeitungsartikel von damals – Rattengift verkauft haben. Daher übersiedelte er mit der Familie nach Moskau.“
Ein Klumpen Mürbteig
Hier setzt die Autobiografie von TFR ein, die vier Brüder – Wilhelm, Louis, Simeon und Julius – hatte. Beim Kuchenbacken hätte sich zum ersten Mal ein Gefühl für die Plastik geregt, aus dem Klumpen Mürbteig formte sie ein Gesicht: „Wie ein Heiligenkopf sah das Gebilde aus. Das Haupt des Johannes!“ Terese Ries wurde mit einem Mann verheiratet, „der großes Leid über mich und meine Familie brachte. Die Geschichte meiner kurzen Ehe ist so traurig, dass ich lieber darüber hinweggehen möchte. Mein einziges Kind starb nach wenigen Monaten.“
Als geschiedene Frau kehrte sie in das Elternhaus zurück. Der Drang, sich künstlerisch zu betätigen, nahm überhand: Mit einem Trick schaffte sie es, an der Moskauer Akademie aufgenommen zu werden. Bereits mit ihren ersten Skulpturen erregte sie Aufmerksamkeit, darunter mit der „Somnambulen“, für die ihr „Stubenmädchen, das sehr gut gebaut war,“ Modell stand.
Danach übersiedelte die Familie nach Wien: 1894 eröffnete der kaiserlich russische Hoflieferant Gutmann Ries in der Großen Neugasse ein Laboratorium zur Herstellung seiner kosmetischen Spezialitäten. An der Bildenden durften „Damen“ noch nicht studieren, Terese Ries nahm daher ab 1895 Privatunterricht bei Professor Edmund Hellmer.
Satanische Stimmung
Und sie sorgte auch in Wien für Furore. Denn 1896 zeigte sie in der Frühjahrsausstellung des Künstlerhauses ihre „Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht“: Die Darstellung einer selbstbewussten, nackten Frau, die sich die Zehennägel schneidet, stellte einen Tabubruch dar. Die Kritiker spitzten ihre Stifte, doch der Kaiser war ganz angetan. Vielleicht weil ihn die Skulptur an seine Sisi erinnerte? Stefan Zweig schwärmte über „das lüstern-erwartungsvolle Lächeln, das von den teuflischen Orgien träumt, die Sinnlichkeit, die sich kaum zurückhalten lässt, eine schwüle, verwirrende, satanische Stimmung …“
TFR stellte alsbald in der Secession aus, man ließ sich von ihr in Stein, Marmor, Gips und Bronze porträtieren, auch der Schriftsteller Mark Twain saß ihr Modell. Im Jahr 1900 wurde Ries bei der Weltausstellung in Paris für die Skulpturengruppe „Die Unbesiegbaren“ zum „Officier de l’academie“ ernannt. 1903 und 1910 nahm sie an der „Esposizione Internazionale di Venezia“ teil. Und 1906 stellte Prinz von Liechtenstein ihr ein Atelier im Park seines Palais zur Verfügung. Sie gründete die Gruppe „Acht Künstlerinnen“ mit, und sie inszenierte sich als Russin, indem sie sich den Mittelnamen Feodorowna gab: „Sie hat eindeutig zwischen ihrem Künstlerinnennamen und ihrem normalen Namen unterschieden“, sagt Valerie Habsburg. „Was total genial ist – für eine Frau der damaligen Zeit.“
Durch Gottes Gnade
Nach dem Weltkrieg war es vorbei. TFR hatte den Großteil ihres Vermögens verloren, die Auftraggeber fehlten. Sie wurde schwer krank – und verarmte. Die Autobiografie war ein Versuch, sich wieder in Erinnerung zu rufen. Zuvor, am 7. Dezember 1921, ließ TFR ein „Pro Memoria“ aufsetzen: Sie erklärte „rechtsentscheidend“, dass sie ihre Kunstwerke „dem jüdischen Nationalmuseum in Palästina schenkt“. Die Vertreter der zionistischen Organisationen erklärten, die Schenkung angenommen und die Werke quasi übernommen zu haben. Doch der Transport wäre derart kostspielig gewesen, dass es nicht dazu kam. Und dann marschierte Hitler ein.
Valerie Habsburg gelang es im November 2018, das private Archiv von TFR, das in Monaco zur Versteigerung angeboten worden war, zum Rufpreis zu erwerben. Sie kam aus dem Staunen nicht heraus. Denn im handschriftlichen Testament, mit 30. April 1941 datiert und von zwei Zeugen unterfertigt, steht: „Ich bin aus dem Judentum hervorgegangen. Daher bin ich auch eine Trägerin seines Geistes und seiner Begabungen. Deshalb soll alles, was ich durch Gottes Gnade geschaffen habe, dem jüdischen Volk gehören. In dieser Erkenntnis habe ich bereits meinen Willen bekundet und mittels einer Urkunde im Jahr 1921 meine sämtlich von mir geschaffenen Werke (...) dem Jüdischen Museum in Palästina vermacht.“
TFR wiederholte also ihren Wunsch – 20 Jahre später. Sie lebte damals bereits in einer jüdischen Sammelwohnung in der Köstlergasse 10. Danach gelang ihr die Flucht. Die Abmeldung stammt vom 15. August 1941. Der Eintrag im Gästebuch der Casa Santa Birgitta in Lugano vom 25. August 1942 lautet: „Nach schwerem Verlust fand ich hier Ruhe x Trost.“ „Was dazwischen passiert ist, wissen wir nicht oder noch nicht“, sagt Valerie Habsburg.
Nach dem Krieg, nun 80-jährig, sorgte sich TFR um den Verbleib ihrer Werke. Sie ging, wie es scheint, Kompromisse ein, damit ein Andenken an sie gewahrt bleibt. Jene Skulpturen, die überdauert hatten, wurden dem Wien Museum, das damals Historisches Museum der Stadt Wien hieß, „einverleibt“ und schändlich behandelt.
Was genau passierte, lesen Sie demnächst in Teil 2!
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