Jahre, nachdem sie von ihr gelernt hatte, wagte es Andrea Eckert, ihre Lehrmeisterin zu verkörpern – und brillierte in Felix Mitterers 2011 im Volkstheater uraufgeführter Huldigung an Dorothea Neff. Eine Huldigung an die große Schauspielerin – und die stille Heldin, die ihre jüdische Freundin Lilli Wolff während der NS-Diktatur unter hohem persönlichen Risiko bei sich in der Wohnung in der Wiener Annagasse versteckte.
Eine Geschichte, der sich nun auch der Journalist Jürgen Pettinger in seinem Buch „Dorothea“ angenommen hat. Dorothea Neff selbst machte nie viel Aufheben um ihren Heldenmut. Über ihr langes Schweigen schreibt der Historiker Andreas Brunner im Vorwort zu Pettingers Buch, Widerstandskämpfer hätten in der Nachkriegszeit in weiten Teilen der Bevölkerung, die den Naziterror willfährig unterstützten, als Verräter und nicht als Opfer der nationalistischen Verfolgung gegolten. Zuerst habe man die in politischen Parteien, bei den Sozialisten, Kommunisten oder Christlichsozialen aktiven Widerstandskämpfer als Opfer anerkannt. Viel später erst Juden und Jüdinnen. Und noch später dann homosexuelle Frauen und Männer.
Erst, als Dorothea Neff 1979 von der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geehrt wurde, lüftete sie zögerlich den Mantel des Schweigens. Seither gab es mehrere Publikationen über das Leben der Schauspielerin und auch über ihre Zivilcourage. Dass die junge jüdische Kostümbildnerin Lilli Wolff, die Dorothea Neff in Köln kennengelernt hatte, nicht nur eine, sondern ihre Freundin, ihre Geliebte war, ist eine Dimension dieser Geschichte, die oft zu kurz kommt.
Bereits unter Kaiser Franz Josef I. wurden im österreichischen Strafrecht sexuelle Handlungen mit „Personen desselben Geschlechts“ verfolgt, in der NS-Zeit behielt das Strafgesetz seine Geltung. Lesbische Beziehungen wurden mit drastischen Strafen bedroht, im schlimmsten Fall mit dem KZ. Dorothea Neff war mehrfach in Gefahr: Die Aufdeckung ihrer gleichgeschlechtlichen Beziehung hätte Gefängnis und Verlust ihres Engagements am Volkstheater bedeutet. Zudem waren Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden nach den Rassengesetzen der Nazis verboten. Hätte man Lilli Wolff entdeckt, hätte das für beide den Tod bedeutet.
Jürgen Pettinger beginnt seine einfühlsame, auch literarisch anspruchsvolle Romanbiografie mit einer Szene, die sich genauso hätte abspielen können: Der angehende Arzt Erwin Ringel, ein Nachbar, ist zu einer geselligen Runde mit Neffs Schauspielkollegin Judith Holzmeister eingeladen. Indirekt mit dabei: Lilli Wolff im Kaminschacht in der Wand. Sie hat seit eineinhalb Jahren die Wohnung nicht verlassen, selten nur ihr uneinsehbares Zimmer, um verräterische Gehgeräusche zu vermeiden.
„Wenn ich schon nicht am Tisch sitzen kann, lass mich doch wenigstens still am Abend teilnehmen,“ fleht sie ihre Freundin an, die mit der geselligen Runde Normalität in einer Welt demonstrieren will, in der jeder jeden zu verraten droht. Die Situation ist beklemmend. Wolff wagt es kaum, zu atmen, umschlingt einen Polster, den sie sich im Fall einer Niesattacke im rußigen Kamin vor das Gesicht pressen kann.
Details wie diese sind authentisch: Neff hat sie in einer Radioaufnahme 1980 erzählt. Damals war sie 76 und vollständig erblindet. Sie redete offen über ihr Leben. Zeigte sich auch mit ihrer Lebensgefährtin Eva Zilcher (und trat mit ihr sogar in einer Folge der „Lieben Familie“ auf).
Lilli Wolff verließ Österreich nach 1945. Die Schicksalsgemeinschaft, die sie mit Dorothea Neff verbunden hatte, zerbrach, als der Feind verschwand. Überlebt hat Lilli Wolff auch dank des jungen Arztes Erwin Ringel, der ihr mit überlebenswichtigen Gesprächen half – so etwas wie seine erste Psychotherapie, erzählte Ringel später. Auch Lilli fand eine neue Liebe. Dorothea blieb sie ihr Leben lang in Briefen verbunden.
Auf Dorothea Neffs Grabstein ist ein Satz aus dem Talmud eingraviert: „Wer einmal ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“