Judenverfolgung in der NS-Zeit: Einblicke in den Wiener Albtraum

Foto aus der Ausstellung: Das Rembrandt war ines der ersten Kaffeehäuser, die geplündert wurden
Die Wiener Holocaust Library in London beleuchtet bis Februar in der Schau „The Vienna Model“ die zentrale Rolle der Stadt in der Shoa

Von Anna-Maria Bauer

Noch Jahrzehnte später wachte Susan Birnbaums Mutter in England schweißgebadet auf. „Ich hatte wieder den Traum“, würde sie Susan am Telefon erzählen. „Ich bin im Zug und auf einmal wird er von den Nazis übernommen. Sie brüllen: Raus! Raus!“ Und die Angst war wieder da.

Als 18-Jährige war es ihr 1939 gelungen, vor den Nationalsozialisten nach England zu fliehen. Das Land hat während des Zweiten Weltkriegs mit insgesamt 31.000 Geflüchteten weltweit die meisten Menschen aus Österreich aufgenommen.

Mit Wien wollte Susans Mutter danach nichts mehr zu tun haben, doch ihre Tochter möchte mehr wissen. Ein paar Antworten hofft sie in der Wiener Holocaust Library am Londoner Russell Square zu erhalten. Noch bis 13. Februar ist im Londoner Stadtviertel Bloomsbury gleich neben dem British Museum eine Ausstellung der österreichischen Akademien der Wissenschaften zu sehen. Auf Initiative von Waltraud Dennhardt-Herzog, Direktorin des österreichischen Kulturforums in London, wurde sie adaptiert, auf Englisch übersetzt und nun in Alfred Wieners Bibliothek für NS-Dokumente, der weltältesten ihrer Art, gelauncht: „The Vienna Model“, das Wiener Modell der Radikalisierung, beleuchtet einen traurigen Teil der Geschichte Wiens, der mit der Welt geteilt werden muss.

„Zu oft werde ich noch mit der Frage konfrontiert, wieso Österreich nicht wie Deutschland mit dem Thema umging“, sagt Dennhardt-Herzog. Die Vergangenheit nicht sofort aufgearbeitet hat.

Denn Österreichs Hauptstadt hat im Zweiten Weltkrieg in tragischem Ausmaß eine zentrale Rolle gespielt. Im Eiltempo waren pogromartige Attacken beschlossen worden, bevor nur ein deutscher Soldat österreichischen Boden betreten hatte. Schwarz-Weiß-Fotos zeigen Mädchen, die ihre Hand begeistert zum Hitlergruß erhoben. "Es gab keinen Protest. Jedenfalls keinen öffentlichen", so die Historikerin Heidemarie Uhl.

Transport Nummer vier

Susan Birnbaun schüttelt den Kopf. Ihr Onkel war als Jugendlicher in einem der ersten Züge: Transport Nummer vier ging am 5. März 1941 vom Bahnhof Aspang ins polnische Modliborzyce. Vom Ghetto kam er ins Konzentrationslager. Durch eine Verkettung surrealer Ereignisse gelang ihm mit einem Burschen, der Maxi Reich hieß, die Flucht. Sie gelangten ins nächste Dorf und dort in einen Zug, der jedoch von den Nationalsozialisten kontrolliert wurde. Doch der Soldat schlief ein, der Mann neben ihm deutete den Burschen – „und sie sprangen aus dem fahrenden Zug“, erzählt Susan Birnbaum. Kurz schlugen sie sich weiter gemeinsam durch; doch als sie Soldaten ausmachten, trennten sie sich – und ihr Onkel beobachtete, wie Maxi von den Nazis angehalten und in ein Auto gestoßen wurde. Er sah ihn danach nicht wieder.

Und dann, vor ein paar Tagen, als Susan den Flyer für die Ausstellung entdeckte, kann sie ihren Augen nicht trauen: Sie sieht das Bild eines jungen Burschen in einer Wohnung mit Blick auf den Stephansdom. Darunter der Name: Maxi Reich. „Wie surreal“, sagt sie. Ihre Mutter hatte Wien die Grauentaten nie verziehen. Nach deren Tod ist Susan letzten Mai nach Österreich gereist. Sie besuchte das Wohnhaus der Großmutter, das Geschäft des Vaters. „Und ich kann nicht genau sagen, warum, aber es war ganz schrecklich. Ich habe wohl erst da tatsächlich gespürt, was passiert ist. Dass es echt war.“

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