"Figaro"-Dirigent bei Festspielen: "Mozart ist nicht nett und schön“
... sondern "ehrlich und manchmal brutal“: Das sagt Raphaël Pichon, der am Donnerstag die Eröffnungspremiere „Le nozze di Figaro“ dirigieren wird.
25.07.23, 13:52
Mozart bei den Salzburger Festspielen zu dirigieren, mit den Wiener Philharmonikern, noch dazu als Eröffnungspremiere: Nach den Kriterien der Welt der klassischen Musik ist man hier an einem Gipfel angelangt, von dem aus es nach allen Richtungen nicht viel weiter nach oben geht.
Raphaël Pichon hat, und das ist kein Widerspruch, trotzdem „lange gezögert“, das Engagement anzunehmen – und er ist mit „gemischten Gefühlen“ nach Salzburg gekommen, wie er im KURIER-Gespräch schildert. „Es ist natürlich eine fantastische Herausforderung und eine große Ehre“, er empfinde „pure Begeisterung, aber auch Angst“, sagt er mit einem Lächeln. Und er habe „viele Fragezeichen“.
Andere Welt
Die ergeben sich aus der spannenden Biografie des 37-jährigen Franzosen, der mit „Le nozze di Figaro“ (Premiere am Donnerstag, Regie: Martin Kušej) sein erstes Opernprojekt bei den Festspielen verwirklicht – und zugleich sein Debüt bei den Wiener Philharmonikern absolviert. Eigentlich aber ist er ein Vertreter der neuen Generation der Originalklang-Spezialisten, in Nachfolge eines Nikolaus Harnoncourt.
Das ergibt mit dem Klang und der einzigartigen Tradition der Philharmoniker eine hoffentlich konstruktive Reibung: „Ich wollte mich nicht auf die Frage fokussieren, wie unterschiedlich wir sind. Es ist klar, dass wir nicht von derselben Welt kommen. Das macht aber auch die Reichhaltigkeit dieses Projektes aus. Lasst uns akzeptieren, dass es vielleicht funktionieren wird. Vielleicht wird es aber auch nicht funktionieren.“
Diese musikalische Kombination war in Salzburg bereits fruchtbar: Gerade Kušej hat vor 20 Jahren mit Harnoncourt am Pult etwa mit dem „Don Giovanni“ Festspiel-Geschichte geschrieben. Heute sei die Welt aber „ganz anders als damals“, sagt Pichon. „Auch Harnoncourts Bild vom Mozartklang war damals ein ganz anderes als jenes, das er 20 Jahre zuvor hatte. Ich besuche Mozart mit dem Puls eines 37-Jährigen.“
Pichon empfinde die Produktion als „Herausforderung: Lasst uns versuchen, einen Raum zu schaffen, in dem sich jeder frei fühlt und davon überzeugt ist, dass wir auf dem richtigen Weg sind, die wichtigsten Messages dieses Werk zu vermitteln.“
Davon hat der „Figaro“ viele: Was Mozart als Opera buffa rund um die Liebeleien von Herrschern und Beherrschten auswies und oftmals als Komödie gelesen wurde, erzählt nicht zuletzt über die Musik eine andere, bei Weitem tiefere und politische Geschichte. Inzwischen haben „viele verstanden, dass Mozarts Musik nicht nett ist oder schön“, sagt Pichon. „Sie ist ehrlich. Manchmal brutal, animalisch, wild. Das zu erkennen, war ein Schock. Es hat alles verändert.“
Auch die Rezeption? Das Publikum von heute habe mehr Bewusstsein von Subtexten – und auch die Fähigkeit, diese Subtexte zu verstehen, habe sich verändert, sagt der Dirigent. „Mozart war niemals wirklich an Politik interessiert“, mehr an gesellschaftlicher Entwicklung. Das zeige sich im „Figaro“ am „einzigartigen Kontrast von purer Freude und Traurigkeit, an der Welt der Lügen und des Sarkasmus, und wie zerstörend der sein kann.“
Fenster geöffnet
Den Graben, der sich in der Opernwelt gar nicht selten zwischen Dirigent und Regisseur auftut, überspringt Pichon behände. „Regisseure haben oft mein Verständnis der Partitur verändert“, sagt er. Etwa Romeo Castelluci bei Mozarts „Requiem“: „Er kann Fenster öffnen, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren“, sagt Pichon. „Ich werde das Requiem nie wieder so hören wie vorher.“
Dass Regie und Musik hin und wieder sehr wohl aufeinanderprallen, sei „wirklich wichtig. Wenn es Ehrlichkeit und Respekt gibt, dann ist alles möglich“. Und „das Risiko ist die Essenz von Musik – und noch mehr von Opernproduktionen“.
Oase Salzburg
Dort, in der Oper, hat sich zuletzt einiges verändert, bestätigt Pichon. „Salzburg ist eine der letzten Oasen der Welt, wo alles ausverkauft ist.“ Anderswo aber kämen seit Covid „weniger Menschen“. Und die Politik müsse motiviert werden, die klassische Musik „gegen das traurige Urteil zu verteidigen, dass sie nur für Eliten ist“, sagt Pichon. Aber „die klassische Musik hat nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Türen zugemacht, sich nicht damit auseinandergesetzt, wie sich die Welt verändert hat. Unsere Realität heute ist, dass wir in einem Ozean von Musik leben, der niemand zuhört.“
Das sei auch in der Handlung des „Figaro“ entscheidend: „Im ersten Akt hört niemand einander zu. Aber im vierten Akt merken alle, was möglich ist, wenn man zuhört.“
Das müsse man auch für die klassische Musik vermitteln: Dass die Komponisten denjenigen, die zuhören, „etwas Einzigartiges zu sagen haben, etwas Universelles“.
Wie? Das „erfordert Geduld“, sagt Pichon, der mit seinem Ensemble Pygmalion u. a. Konzerte an ungewöhnlichen Orten gibt, um Publikum zu gewinnen. „Das ist unsere Aufgabe als junge Musiker. Originalklang ist längst Mainstream. Wir dürfen dieses Erbe nicht einfach nur zu einer neuen Tradition werden lassen.“
Kommentare