„Es gibt noch etwas anderes als Status, Geld und Schein“
Viel zu lange sei der „Jedermann“ in halb folkloristischer Anmutung über die Bühne gegangen, sagt Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser. Darum habe man den Entschluss gefasst, einen Neuanfang zu wagen: Er beauftragte den kanadischen Starregisseur Robert Carsen.
KURIER: Sie haben unlängst Ihren 70. Geburtstag gefeiert. Ist das ein Datum, wo man über den Tod nachzudenken beginnt?
Robert Carsen: Ich habe schon vor vielen Jahren damit angefangen. Aber nicht mit Angst, sondern mit Neugier. Im Theater und in der Oper geht es die ganze Zeit ums Leben und ums Sterben. Und das muss man als Regisseur irgendwie auf die Bühne bringen, nicht nur mit Respekt, auch mit Gefühl und Tiefe. Das Leben beginnt wie ein Spiel ohne Regeln, und peu à peu verschwinden die Menschen, die man liebt. Man ist immer irgendwie mit dem Tod konfrontiert, auch wenn man denkt, dass er nur die anderen betrifft, nie aber einen selbst.
Und genau darum geht es doch …
Ja, es geht in erster Linie um den Tod von Jedermann. Aber wenn er versteht, dass er sterben muss, kommt er zur Erkenntnis: „Hie wird kein zweites Mal gelebt.“ Hofmannsthal verwebt immer mehrere Aspekte. Es gibt daher Schatten und Licht, Leben und Sterben. Die Frage ist also: Wie lebst du dein Leben? Man sagt gerne, man sollte den Tag so leben, als wäre er der letzte. Das gelingt niemandem. Aber man denkt darüber nach, was ein gutes Leben ist – nicht nur für einen selbst, auch für die anderen. Jedermann denkt also darüber nach, ob seine Wertvorstellungen die richtigen waren.
Die guten Werke sind recht mager, wie er erkennen muss.
Aber vielleicht ist er gar nicht schuld daran? Er hat nie anders gedacht. Aufgrund seiner Erziehung? Oder aufgrund seines Umfelds? Sein guter Gesell ist ja ein schlechter Einflüsterer, er drängt ihn geradezu, herzlos zu sein. Und Jedermann entdeckt erst sehr spät, dass es noch etwas anderes gibt als Status, Geld und Schein. Denn er sagt, dass das Geld immer für ihn gearbeitet hat – und er die Leute kaufen konnte. Dementsprechend sagt er auch, als das erste Mal der Tod erscheint: „Ich bin ein mächtig reicher Mann. Die Sach soll aufgeschoben sein.“
Sie sind der Auffassung, dass Jedermann ein Neureicher ist?
Ich frage mich: Woher kommt dieses Geld? Der „Jedermann“ wurde 1911 in Berlin uraufgeführt – im gleichen Jahr wie der „Rosenkavalier“ mit dem Libretto von Hofmannsthal. In dieser Oper gibt es den Baron von Faninal, der sein Vermögen mit Waffenlieferungen an die niederländische Armee gemacht hat. Und die 1916 entstandene Fassung der „Ariadne auf Naxos“ spielt im Haus eines der reichsten Männer von Wien, der klar ein Neureicher ist: Gleichzeitig soll eine Tragödie und eine Komödie aufgeführt werden und danach folgt ein Feuerwerk. Dieser Neureiche hat überhaupt kein Interesse an Kunst. Tatsache ist, dass sich Hofmannsthal intensiv mit dem Kapitalismus und dem Materialismus beschäftigt hat. Es ist daher vollkommen klar, dass auch Jedermanns Geld ein neues ist. Aber abgesehen davon: Es muss um die Gegenwart gehen. Und die Schere zwischen arm und reich ist seit der Uraufführung immer mehr auseinandergegangen. Ja, der Stoff hat uns sehr, sehr viel zu sagen.
Warum war dann die Uraufführung 1911 in Berlin ein Flop?
Das ist eine gute Frage. Ich hab’ viel recherchiert, aber keine Antwort. Denn Max Reinhardt hat ja inszeniert – wie 1920 in Salzburg. Vielleicht waren die Menschen erst nach dem Weltkrieg für die Botschaft bereit? Aber es gibt viele Uraufführungen, die ein Flop waren – und erst danach zu einem Triumph wurden. Zum Beispiel „La traviata“. Und „Madame Butterfly“ war eine totale Katastrophe!
Sie haben viele Opern mit einem Hofmannsthal-Libretto inszeniert. Aber nie daran gedacht, den „Jedermann“ inszenieren zu wollen?
Genau. Und ich war sehr überrascht, als Markus Hinterhäuser mich gefragt hat. Denn damals, 2004, als ich in Salzburg den „Rosenkavalier“ inszeniert habe, war er noch nicht Intendant der Festspiele. Aber wir hatten Jahre später ein langes Gespräch über Hugo von Hofmannsthal. Seine Texte sind wie ein Eisberg, man sieht auf den ersten Blick nicht viel, aber es gibt eine enorme Tiefe. Hofmannsthal analysierte die alte Welt, die Monarchie, und er ahnte, was kommen würde. In der zweiten Version des „Rosenkavaliers“ wurde aus der Fürstin Werdenberg die Frau eines Feldmarschalls. Warum? Ja, Hofmannsthal hat den Krieg kommen gesehen.
Er hat viel vom „Everyman“ übernommen, aber Akzente gesetzt…
„Everyman“ ist mittelalterliche Moritat und ein Mysterienspiel, ein Straßentheater, das die religiöse Lehre unter die Leute bringen sollte. Hofmannsthal hat den Mammon dazugenommen und den Tod. Aber es bleibt diese Melange zwischen realen und allegorischen Figuren. Natürlich wird im „Jedermann“ von Gott gesprochen. Hofmannsthal hat 1912 festgehalten, dass ihm das Spirituelle wichtig ist, es ging ihm jedoch nicht um die katholische Kirche, seine Botschaft ist universeller.
Viele stoßen sich am Pseudo-Mittelhochdeutsch und Knittelvers.
Auch bei Shakespeare oder Molière gibt es Wendungen, die für uns sonderbar klingen. Die Übersetzungen hingegen sind viel klarer und moderner. Aber eben: Sie sind in der Gegenwart entstanden. Meine erste Sprache ist nicht Deutsch; aber für mich klingt der „Jedermann“, als wäre er heute geschrieben worden.
Sie nehmen daher keine Veränderungen vor?
Es kommen auch keine Fremdtexte hinzu: You have to play the game by the rules. Wir spielen Hofmannsthals „Jedermann“. Aber natürlich gibt es Kürzungen, weil der Text zu lang ist für eine Spielzeit von knapp zwei Stunden ohne Pause. Haben Sie das Regiebuch von Max Reinhardts erster Salzburg-Produktion gesehen? Er hat enorm viel gestrichen, mehr als wir – glaube ich.
Aber Sie haben sich doch bewusst nicht mit der Aufführungsgeschichte beschäftigt.
Ich habe immer Angst davor, mir das anzuschauen, was andere Regisseure gemacht haben. Weil wenn es wirklich gut ist, und das ist ja oft der Fall, bin ich vielleicht gehemmt. Aber natürlich weiß ich einiges. Ich habe auch zwei Produktionen gesehen, aber nie am Domplatz, weil beide Male schlechtes Wetter war.
Und nun ist der Dom die Kulisse …
Dieses Gebäude ist ein Wunder! Wir kriegen nichts Fantastischeres! Daher ist das Haus Gottes das Haus von Jedermann. Wenn er so wahnsinnig reich ist, wohnt er eben da.
Ihr „Jedermann“ wird daher auch ein Spektakel?
Nein. Aber ein derart reicher Mann schmeißt eine Party, bei der man dabei sein will. Unsere Party wird vielleicht ein wenig anders sein als in den bisherigen Aufführungen. Aber anders zu sein, war keine Motivation für mich. Man muss das machen, von dem man glaubt, dass es richtig ist. Mir geht es um den Text. The play is the thing. Und alle Entscheidungen basieren auf dem, was ich aus dem Text herauslese.
Also pures Schauspiel?
Ja. Und es gibt zehn Musiker. Aber ich bin nicht jemand, der die ganze Zeit Musik über den Text legt. Kennen Sie „Capriccio“ von Richard Strauss? Flamand vertont ein Sonett von Olivier – und der Poet meint verzweifelt: „Mein schönes Gedicht, mit Musik übergossen!“ Ich will den Text hören! Und ihn verstehen!
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