Pietro Marcello über "Martin Eden": Matrose mit Bildungswut

Der Italiener Luca Marinelli erhielt für seine Titelrolle auf dem Filmfestival in Venedig den Preis als bester Schauspieler: „Martin Eden“ von Pietro Marcello
Pietro Marcellos Verfilmung von Jack Londons "Martin Eden" ist ein Meisterwerk über einen Schriftsteller – und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts

Wenn derzeit ein Film in den Kinos läuft, den man sich unbedingt ansehen sollte, dann ist es „Martin Eden“. Bis heute bleibt es schwer verständlich, warum auf dem Filmfestival in Venedig von 2019 „Joker“ den Goldenen Löwen als bester Film gewann – und nicht Pietro Marcellos „Martin Eden“.

Das Drama eines armen, ungebildeten neapolitanischen Matrosen, der sich in eine reiche Tochter aus aristokratischem Haus verliebt und versucht, mithilfe einer Schriftstellerkarriere in ihr gehobenes Milieu einzudringen, erzählt nicht nur von einer unglücklichen Liebe. Es erzählt auch von dem Schicksal eines gesamten Jahrhunderts, seinen großen Hoffnungen und seinen dramatischen Niederlagen.

Der amerikanische Schriftsteller Jack London, berühmt durch Abenteuerromane wie „Ruf der Wildnis“ oder „Der Seewolf“, hatte seinen autobiografisch eingefärbten Roman „Martin Eden“ im Jahr 1909 geschrieben und sich darin auch mit den Folgen seines eigenen Ruhms auseinandergesetzt.

Doch nicht nur das: „Sein Buch war wie eine Prophezeiung des 20. Jahrhunderts“, sagt Regisseur Pietro Marcello während eines Gesprächs mit dem KURIER bei seinem Viennale-Besuch in Wien: „Er hat die gesamte europäische Katastrophe in einer Art Parabel vorweg genommen – beginnend mit den Schriften des darwinistischen Vorreiters Herbert Spencer, über Nietzsche bis hin zu Mussolini, Hitler und Stalin.“

Pietro Marcello über "Martin Eden": Matrose mit Bildungswut

Wird oft mit Pier Paolo Pasolini verglichen: Der italienische Regisseur Pietro Marcello

Der Italiener Pietro Marcello, Jahrgang 1976 und spätestens seit „Martin Eden“ als neuer Pasolini gefeiert, hat mit seiner Adaptierung des Romans nicht einfach nur ein Buch verfilmt.

Zwar übernimmt Marcello Textpassagen von Jack London und folgt in groben Zügen den Bildungsschritten von Martin Eden, seinen neuen Freunden und seinen philosophischen Ambitionen. Doch elegant verschiebt er den Schauplatz einer typisch amerikanischen Geschichte von Kalifornien nach Neapel.

Aber noch viel entscheidender und visuell höchst aufregend: Marcello bricht die chronologischen Abläufe auf und mischt historisches, fantastisch schönes Archivmaterial unter seine eigene Spielfilmgeschichte. Dadurch bleibt der Zeitpunkt der Erzählung in Schwebe: Befinden wir uns vor dem Ersten Weltkrieg oder doch schon vor dem Zweiten? Manchmal tragen die Frauen die Röcke kurz, dann lang. Bestimmte Haarschnitte wiederum sehen so aus, als stammten sie aus den 70er- oder 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts.

Pietro Marcello über "Martin Eden": Matrose mit Bildungswut

Verliebt in eine Aristokratin: Luca Marinelli und Jessica Cressy in "Martin Eden"

Adrenalinschub

Es kann auch durchaus vorkommen, dass Schwarz-weiß-Fragmente aus alten Stummfilmen, die beispielsweise die desolaten Lebensverhältnisse von Arbeitern zeigen, mit Popsongs aus den 60er- und 70er-Jahren aufgepeppt werden. Wie ein DJ mixt Marcello herzergreifende Archivaufnahmen mit seiner verzweifelten Liebesgeschichte zu einem prachtvollen, sinnlichen Filmkunstwerk: „Für mich ist das Archiv absolut notwendig, um eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert zu erzählen“, meint Marcello, in dessen Arbeitsweise man auch seine Wurzeln im Dokumentarfilm spürt, begeistert: „Ich liebe es, komplett verschiedene Dinge zusammenzumontieren. Das ist jener Teil des Filmemachens, der mir Adrenalinschübe versetzt.“

Zudem hat der Regisseur auf körnigem, 16-mm-Material gedreht, was die satten, glanzvollen Farben seines Films gleichermaßen retro und zeitlos aussehen lässt.

Luca Marinelli – für die Titelrolle als bester Schauspieler in Venedig ausgezeichnet – spielt seinen gut aussehenden (Anti-)Helden mit dem charismatischen Feuer des ambitionierten Aufsteigers. Mit großer Bildungswut und sozialer Angriffslust will er sich aus seinen miesen Verhältnissen in die Oberschicht schreiben. Dabei verwehrt sich Martin Eden den sozialistischen Bewegungen seiner Zeit. Beim Abendessen in der aristokratischen Familie seiner Angebeteten propagiert er radikalen Individualismus. In einer Brandrede steigert er sich zu Fantasien über „blonde Bestien“ hinein, die Schwächere dominieren müssen. Faschismus lässt grüßen.

Populismus

„Für mich ist dieser Film sehr aktuell“, so Pietro Marcello: „Mein Ziel war es, das 20. Jahrhundert parabelhaft zu durchschreiten. Vor vierzig Jahren konnte sich niemand vorstellen, dass es in Europa einen Brexit geben würde, Le Pen, Orbán, Salvini und all die anderen. Wir haben von der Geschichte nicht gelernt.“

Denn irgendwann hat auch ein Martin Eden mit seinen Schriften Erfolg und betört seine Fans (und lange Zeit auch uns, das Publikum) mit seinem Charisma und seinem philosophischen Quatsch. Er wird zum Inbegriff von purem Populismus und leerer Rhetorik.

Für Pietro Marcello ist „Martin Eden“ auch insofern ein sehr moderner Zeitgenosse, weil er an seinem eigenen Narzissmus und seiner Selbstliebe scheitert: „Er verliert jeden Bezug zu sich, zu seiner Herkunft und seiner Umgebung. Er wird zum Opfer seines eigenen Individualismus. Am Ende hat er nichts mehr zu sagen.“

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Politische Irrwege: "Martin Eden"

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