Genau. Kornmüller und Wolf haben daraus dann eine ganze Reihe gemacht: „Ganymed goes Europe“, „Ganymed Dreaming“ usw. Aber noch vor dem zweiten Teil habe ich meine Szene zum Stück „Fly Ganymed“ erweitert. Die Uraufführung fand 2012 im Theseustempel statt – u. a. mit Joachim Bissmeier. Der Bub reist durch die Welt, um seinem Leben einen Sinn zu geben … 2015 war dann die große Flüchtlingskrise. Nikolaus wollte das Stück daher unbedingt wieder auf die Bühne bringen. Zuletzt ist es mit großem Erfolg im Schauspielhaus Stuttgart gelaufen.
Und 2018 folgte am Grazer Schauspielhaus „Böhm“?
Ja. Nikolaus wusste, dass ich eine Affinität zur klassischen Musik habe – und in meinem Elternhaus mit Aufnahmen von Karl Böhm aufgewachsen bin. Einmal sprachen wir über das Problematische in dessen Biografie. Und Nikolaus drängte es, sich mit dem „großen Sohn“ seiner Heimatstadt zu beschäftigen. Denn es ärgerte ihn, wie die Grazer jede Auseinandersetzung über die NS-Vergangenheit von Böhm vermieden haben. So kam es zu dieser Form der literarischen Aufarbeitung, erzählt mithilfe eines Doppelgängers.
Ein „Denkmalsturz“ war die Uraufführung aber nicht.
Da bin ich nachsichtig. Vielleicht weil ich sicher bin, dass in jedem von uns etwas von den problematischen Seiten des Karl Böhm steckt.
In jedem steckt ein Nazi?
Das ist journalistische Zuspitzung! In jedem von uns steckt ein Mitläufer.
Und jetzt „Die Blendung“. Canetti erzählt vom weltfremden Büchernarren Peter Kien, dessen riesige Bibliothek zum Schluss ein Raub der Flammen wird.
Wir beide beschäftigen uns mit den Auswirkungen des Nationalsozialismus. Ich tue das in meinen Büchern, Nikolaus hat den „Herrn Karl“ gemacht und zuletzt „Der Leichenverbrenner“. Nun wollte er „Die Blendung“ auf die Bühne bringen. Elias Canetti hat den Roman 1931/’32 geschrieben – und schon vieles erahnt, was ab 1933 in Deutschland und ab 1938 in Österreich passiert ist. Etwa die Bücherverbrennung und die Vertreibung. Ja, es ist ein unglaublich hellsichtiges, fast prophetisches Buch. Nikolaus hat mich gefragt, und ich erinnerte mich sogleich an meine eigenen, mehr als 30 Jahre zurückliegenden Lektüreerfahrungen. Also sagte ich zu.
Der Roman hat mehr als 500 Seiten. Das muss eine Viechsarbeit gewesen sein, auch wenn es viele Dialoge gibt.
Ja, ich habe den Aufwand unterschätzt. „Die Blendung“ mit allen Facetten auf die Bühne zu bringen, ist unmöglich. Ich konnte nur einige zentrale Aspekte herausgreifen, etwa die Rolle des Buches im Kontext des Judentums. Der Zuhälter Fischerle zum Beispiel bezeichnet Kien als „Saujuden“, die kleingeistige Haushälterin Therese vertreibt die Kunst und das Jüdische aus der Wohnung, und Kien richtet sich eine Bibliothek in seinem Kopf ein …
Und es gibt die Figur des Bruders: Georg Kien ist Psychiater – wie Sie.
Er darf sich daher in meiner Fassung fragen, warum das alles so gekommen ist.
Wie lautet Ihr Befund?
Peter Kien ist ein verzweifelter Geistesmensch, der an der Brutalität und Geistlosigkeit seiner Umgebung zugrunde geht. Natürlich ist das überzeichnet. Generell sind die „Typen“ des Romans nicht unmittelbar aus dem Leben gegriffen. Canetti hat gewisse menschliche Aspekte in Gestalt von Figuren auf den Punkt gebracht. Der Hausmeister Pfaff zum Beispiel artikuliert immer wieder seinen Hass auf Frauen.
Sie erzählen die Geschichte rekonstruierend von hinten, die Bibliothek ist bereits abgebrannt. Und Sie enden mit dem Anfang, dem Gespräch zwischen Kien und dem Buben vor dem Buchgeschäft.
Das war die ursprüngliche Idee. Auf der Bühne werden Sie das nicht so sehen. In der Praxis ist eben nicht alles möglich, was sich der Autor an Kleinteiligkeit vorstellt.
Der von Ihnen eingeführte Kronzeuge aber bleibt?
Nein. Er hätte bei mir die Funktion gehabt, Intertextualität herzustellen, indem er „Die Blendung“ mit anderen Texten von Canetti verschränkt – quasi als Alter Ego des Autors. Diese Passagen sind letztlich gestrichen worden. Aber als Autor will ich da der Dramaturgie und der Regie vertrauen.
Die eine Figur, der Zuhälter Fischerle, ist ein buckliger „Zwerg“. Bei dem Begriff reißt es einen heutzutage.
Fischerle wird von einer Puppe verkörpert. Das erlaubt Nikolaus einiges in der Darstellung. Es erlaubt auch Dinge, die in drastischem Wortlaut im Original stehen und vielleicht als politically incorrect empfunden werden.
Gibt es weitere Projekte?
Wir haben für die Oper in Dortmund 2020 eine Corona-Fassung der „Entführung aus dem Serail“ gemacht, konzentriert auf 70 Minuten. Dem folgte eine Kinderfassung der „Zauberflöte“, die jetzt Premiere hatte. Das war gar nicht so einfach. Wenn sich Papageno aufhängen und wenn Pamina sterben will: Das muss man Kindern ja irgendwie erklären. Für die Zukunft gibt es ein paar interessante Projekte. Die sind allerdings noch sehr geheim.
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