Paulus Hochgatterers Literatur ist eine Zumutung

Paulus Hochgatterers Literatur ist eine Zumutung
... eine wunderbare Zumutung: Der Schriftsteller und Jugendpsychiater über seinen neuen Roman, über Politiker und das Cello.

Manchmal muss Literatur eine Zumutung sein. Paulus Hochgatterers Romane sind eine wunderbare Zumutung.

„Fliege fort, fliege fort“ ist der dritte Roman zur Frage: Was tun Erwachsene den Kindern an? (zuletzt „Das Matratzenhaus“, 2010). Es ist ein Wiedersehen in einer Kleinstadt im Salzkammergut mit Kommissar Ludwig Kovacs und Psychiater Raffael Horn. Es ist wieder kein Kriminalroman ... trotz der seltsamen Entführung eines Mädchens, trotz verprügelter alter Männer, die im Spital lügen: Nein, nein, sie seien bloß gestürzt.

Goethes Faust kommt vor, und ein Bub, der aus einer schrecklichen Familie gerettet und von seinen Pflegeeltern missbraucht wurde, bekommt im Heim vom Direktor gleich einmal eine Watschn.

„Gewalt ist eine rasch verfügbare Ressource“, sagt Hochgatterer, Kinder- und Jugendpsychiater in Wien. Hochkonzentriert ist sein Roman, und manches schreibt er gar nicht. Dann muss man zwei Mal lesen, und dann steht es deutlich vor Augen ...

 

KURIER: Sie schreiben: Männer schmutzen, daher sollten sie ab einem gewissen Alter in regelmäßigen Abständen abgestaubt werden. Ist das wissenschaftlich erforscht?

Paulus Hochgatterer: Selbstverständlich! Zuletzt haben Patrizia Söderquist vom Karolisnka-Institut und Nicolas Arquette von der Stanford University gezeigt, dass dieses Phänomen, das einem auf alltagspraktischer Ebene jede Ehefrau bestätigen kann, sowohl mit dem Y-Chromosom als auch mit dem Salzgehalt der Luft zu tun hat. Mit anderen Worten: Am Meer zeigt sich die Sache interessanterweise nicht so deutlich wie in Binnenländern. Die Arbeit heißt übrigens „Gender and Dust“. (Hochgatterer schätzt es nicht, wenn man ihm nicht alles glaubt.)

Sie stellen dem Roman den Satz voran: Die erste Erfahrung, die ein Kind von der Welt macht, ist nicht die, dass die Erwachsenen stärker sind, sondern dass es selbst nicht zaubern kann. Würden Sie das bitte näher ausführen?

Eigentlich müsste man da Walter Benjamin fragen, von dem dieser Satz stammt. Für mich beschreibt er die Erkenntnis des kleinen Kindes, dass es in Wahrheit zwei Welten gib: Eine, die sich im eigenen Kopf abspielt, und eine, die wir, die Großen, Wirklichkeit nennen. In der ersten sind die Menschen zugewandt, man muss sich nicht fürchten, und die Geschichten gehen gut aus. In der zweiten trifft man auf Einsamkeit, Gewalt, Angst und Tod. Es geht immer darum, sich den Zugang zur ersten Welt zu erhalten, zumindest ein wenig.

Gefühlsmäßig wurde noch nie derart vielfältiger Wahnsinn und Gewalt in einem Roman von Ihnen gezeigt. Weil die Zeiten verrückter werden?

Ach herrje, jetzt stecken Sie mich wieder in die Psychiater-Kiste! In meinem Buch werden Gewalt und Verrücktheit im Umgang unserer Gesellschaft mit Kindern und Jugendlichen gezeigt, in Kinderheimen, in Flüchtlingsquartieren, in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Etwas, das vor allem eine politische und viel weniger eine psychiatrische Dimension besitzt. Die Zeiten werden aus meiner Sicht nicht verrückter, aber auch nicht weniger verrückt. Das ist bedauerlich genug, finde ich.

Manchmal möchte man eine medizinische Erklärung von Ihnen haben. Eine Fallgeschichte wie von Oliver Sacks oder Frank Tallis.

Ich weiß eh, hinter medizinischen Erklärungen kann man sich ganz bequem verstecken. Wenn sich ein jugendlicher Flüchtling in seiner Verzweiflung darüber, wie er hier behandelt wird, an einem Kastanienbaum aufhängen möchte, braucht es – wenn überhaupt – Fallgeschichten über die Persönlichkeiten der POLITIKER, die das zu verantworten haben. Wenn jemand, der in einem Kinderheim sadistische Gewalt erlebt hat, später Rache übt, braucht es genauso wenig einen klinischen Bericht. Die Fallgeschichte als literarische Form interessiert mich in meinen Romanen überhaupt nicht. Damit, dass meine Geschichten trotzdem so gelesen werden, muss ich wohl zurecht kommen.

Zum Beispiel eine der Hauptfiguren, Ihr Psychiater Dr. Horn: Er denkt sich etwas und merkt nicht, dass er es nicht bloß gedacht, sondern ausgesprochen hat. Denkt er: Diese Frau würd’ ich gern umarmen, so merkt er erst, dass er laut gedacht hat, wenn die Frau zu ihm sagt: Aber gern ..! Das ist ein wunderbares Bild für mehr Offenheit. Ist es an der Grenze zum Krankheitsbild?

Das wünschen wir uns doch alle, dass unsere Sehnsüchte und unser Begehren von den anderen erkannt werden, ohne dass wir uns mit unserer Schüchternheit und unseren sozialen Ängsten abplagen müssen. Ein bisschen mehr unbefangenes Umarmen täte unserer Welt schon gut, denke ich. Eine Krankheit ist das ganz und gar nicht!

Ein Mittelpunkt des Buchs ist ein Heim für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge. Geht Österreich mit ihnen so um, wie es sich ein Kinder- und Jugendpsychiater wünscht?

In Österreich gibt es unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen gegenüber von ganz vielen Menschen Wohlwollen und die Bereitschaft, zu helfen. Das muss auf der einen Seite gesagt werden. Dass diese jungen Leute politisch trotzdem nach wie vor auf breiter Front als Projektionsfläche für primitive Ängste missbraucht werden, ist zutiefst beschämend. Man hat nichts Besseres zu tun, als sich damit zu rühmen, einen traumatisierten, alleingelassenen Siebzehnjährigen an der Beendigung seiner Lehre gehindert und nach Afghanistan zurückgeschickt zu haben. Wirklich super, oder? Angesichts solcher Politiker möchte man vor Scham in Grund und Boden versinken.

Dr. Horns Sohn hilft einem Burschen, den die Polizei sucht, ins Ausland zu flüchten. Ist dieser Psychiater als Vater gelassener als Sie?

Wenn man als Vater eines Sohnes über den Vater eines Sohnes schreibt, dann doch nur aus zwei Gründen: Erstens möchte man sich selbst gewisse Katastrophen vom Leib halten, indem man sie dem anderen andichtet, und zweitens schreibt man dem anderen die Souveränität zu, die man selbst ganz und gar nicht besitzt.

Zur Beruhigung erklingt im Roman mehrmals Cello-Musik, gespielt etwa von Anne Gastinel und Yo-Yo Ma. Ist Cello gesund?

Und wie! Am gesündesten wäre es wohl, selbst Cello zu spielen. Da das nur den wenigsten von uns gegönnt ist, ist das Hören von Cello-Musik ein legitimer Ersatz. Die erste Cello-Sonate von Beethoven eignet sich zum Beispiel sehr gut als Einstieg. Man hört eine halbe Stunde lang zu, fühlt sich erfrischt, verjüngt, viel gesünder als davor und hat sich die Kosten für ein ganzes Wellness-Wochenende gespart.

 

Paulus
Hochgatterer: „Fliege fort,
fliege fort“
Deuticke Verlag.
288 Seiten.
23,70 Euro.

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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