Neuausrichtung: Lotte de Beer sorgt in der Volksoper für Debatten
Eigentlich sind es noch eineinhalb Jahre, bis Lotte de Beer die Volksoper leitet. Aber die energische wie enthusiastische Holländerin sorgt schon jetzt für Aufregung. Denn sie fühlt sich zu einer „Neuausrichtung“ berufen – und mit ihr gehen Veränderungen einher. Was sie macht, ist international durchaus üblich: Man baut das Ensemble um und verjüngt es.
Diesen Schritt vollzog auch Bogdan Roščić, der neue Staatsoperndirektor. Nicht aber dessen Kollege, der die Volksoper nach dem Motto „Leben und leben lassen“ leitete. Dass Robert Meyer in 14 Jahren keine Veränderungen herbeiführte, findet Ioan Holender, der ehemalige Staatsoperndirektor (und vier Jahre auch für die Volksoper zuständig), geradezu „erstaunlich“: „Er fand offensichtlich alle Ensemblemitglieder derart gut, dass er sie immer weiterbeschäftigt hat.“
Er, sagt Holender, hätte das nicht gemacht: „Im Laufe meiner 19 Jahre gab es permanent einen Wechsel im Ensemble. Ich muss das sagen, auch wenn es schmerzlich ist: Das Singen ist eine körperliche Leistung und daher mit Jugend verbunden. Selbst beim besten Fußballer ist es Mitte 30 vorbei. Oder bei den Balletttänzern. So ist es auch bei den Sängern – abgesehen von der berühmten Ausnahme eines 80-jährigen Tenors, der das Fach wechselt. Mehrheitlich bringt man über 50 schwächere Leistungen. Weil die Kraft nachlässt, das Volumen geringer wird, die Schönheit der Stimme verblasst.“
Keine Alternative
Lotte de Beer wollte also viele Vorstellungen besuchen, um die Ensemblemitglieder in mindestens zwei Rollen zu sehen. Doch die Lockdowns aufgrund der Pandemie verhinderten dies. Eigentlich wäre für die Entscheidung noch Zeit. Denn, wie Holender ausführt: „Bis 15. Oktober muss der Dienstgeber die Nichtverlängerung des Vertrages mitteilen – andernfalls läuft dieser einfach ein Jahr weiter.“
De Beer aber wollte den Künstlern möglichst viel Zeit für eine allfällige Umorientierung zugestehen. Daher ließ sie, weil es keine Alternative gab, alle zum Vorsingen antanzen. Wobei der Ausdruck nicht ganz stimmt: Man durfte selbst entscheiden, ob man Arien singt, Dialoge spricht oder Szenen spielt. Die Auditions fanden Ende März statt.
Die in Salzburg lebende Kammersängerin Marjana Lipovšek kritisiert die Vorgangsweise scharf. Es sei „ein beispielloser Skandal“, dass die Sänger „untrainiert (bekanntlich sind die Opernhäuser ja geschlossen)“ zum Vorsingen antreten mussten. Und man hätte auch nichts davon, wenn man weiß, dass man gehen muss: „Es gibt momentan keinen Markt für Sänger, es gibt europaweit keine Vorsingen.“ Dies würde ganze Familien in Katastrophen stürzen: „Wo bleibt der Aufschrei gegen solche Gemeinheiten?“
Verblühte Stimmen
Holender hingegen glaubt nicht, dass es eine Verpflichtung zur Versorgung gibt: „Unsere Opernhäuser sind, vom Steuerzahler finanziert, Dienstleistungsunternehmen. Sie müssen Qualität und Glaubhaftigkeit bringen. Das ist entscheidend. Sie sind keine soziale Einrichtung. Die Opernhäuser spielen für das Publikum, nicht für die Sänger.“ Und auch nicht für „verdienstvolle Sängerinnen mit verblühten Stimmen, die jetzt unterrichten und Schülerinnen in der Volksoper haben“.
Zudem sei das Volksopernensemble mit 64 Sängern, Schauspielern, Kleindarstellern eindeutig zu groß. Jenes der Staatsoper ist deutlich schlanker: Dort gibt es 31 Ensemblemitglieder, 13 junge Sänger im neu gegründeten Studio und 16 Künstler mit Residenzverträgen, die also nur für eine bestimmte Periode innerhalb einer Saison fix engagiert sind.
Im Jahr zuvor, der letzten Saison von Dominique Meyer, waren es noch 57 Ensemblemitglieder und elf Künstler mit Residenzverträgen. Auch Lotte de Beer sei, so der bekannte Sparmeister Holender, gut beraten, das Ensemble zu verkleinern. Zumal Festanstellungen nicht mehr üblich seien: „Vielerorts gibt es nur Stück- oder Gastverträge.“
Für Holender steht fest: „Lotte de Beer ist für all das verantwortlich, was auf die Bühne kommt. Sie muss daher freie Hand in der Frage haben, wen man engagiert – oder eben nicht.“ Marjana Lipovšek hingegen bedauert, dass Solisten als Einzelgänger und Einzelkämpfer „bei jedem Chefwechsel vollkommen schutzlos“ seien.
Befürchteter Kahlschlag
Die Kammersängerin befürchtet gar einen „Kahlschlag in der Volksoper“ und bittet „alle Menschen, die irgendeinen Einfluss auf dieses Desaster haben, inständig, das Ganze zu überdenken“: „Lieber Herr Bundeskanzler, liebe Kulturpolitiker, liebe Volksopernleitung, finden Sie eine Lösung, für die man sich als Angehörige einer Kulturnation nicht schämen muss!“
Mit Zahlen lässt sich die Befürchtung aber nicht wirklich untermauern: Von den 64 Personen gehen vier in Pension, sieben sind aufgrund ihrer langjährigen Zugehörigkeit zur Volksoper (noch vor der Ausgliederung 1999) unkündbar. 16 weitere Ensemblemitglieder bleiben, 15 bekommen Residenz- oder Gastverträge. Nicht verlängert werden die Verträge von gerade mal 14 Ensemblemitgliedern. Holender ist überzeugt: „Lotte de Beer wird die Volksoper aus dem Halbschatten ins Licht bringen!“
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