Cannes: Iran-Dissident Mohammad Rasoulof protestiert gegen Brutalität
Gefängnis oder Cannes?
Der iranische Filmemacher Mohammad Rasoulof hat sich für Cannes entschieden – und damit für die erzwungene Emigration aus seinem Heimatland.
Eine Entscheidung, die ihm nicht leicht gefallen sei, wie der 51-jährige Regisseur wiederholt betonte. Achtundzwanzig Tage lang flüchtete der Gewinner der Berlinale 2020 („Doch das Böse gibt es nicht“) über geheime Routen nach Deutschland, wo seine Tochter lebt. Und reiste schließlich nach Cannes, um zum Finale der 77. Filmfestspiele sein Drama „The Seed of the Sacred Fig“/„Die Saat der heiligen Feige“) persönlich vorzustellen; jenem regimekritischen Film, der die Brutalität der Islamischen Republik Iran gegenüber der eigenen Bevölkerung offen anprangert und ihm eine Verurteilung zu acht Jahren Haft und Peitschenhieben eingetragen hatte.
Mit seinem aufwühlenden Familienporträt sorgte Rasoulof am Ende des Festivals nicht nur für einen emotionalen Höhepunkt, sondern auch für ein starkes Finale.
Bereits bei seinem Gang über den roten Teppich vor der umjubelten Premiere hielt der Regisseur die Fotos seiner Hauptdarsteller Soheila Golestani und Missagh Zareh in die Kamera, die beide im Iran festgehalten werden. Eindringlich und nuanciert spielen sie ein streng gläubiges Ehepaar, dessen beider Töchter mit der aufflammenden Protestbewegung in Teheran in Kontakt kommen.
Der Vater namens Iman arbeitet als Ermittlungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran und gerät mit seinem Gewissen in Konflikt, weil er laufend Todesurteile unterzeichnen muss, ohne die nähere Faktenlage zu kennen. Seine Töchter hängen unterdessen am Handy und beobachten mit Entsetzen, wie mit brutaler Staatsgewalt gegen die protestierenden Menschen – vor allem junge Frauen – vorgegangen wird. Die familiäre Lage spitzt sich zu, als die väterliche Dienstwaffe verschwindet. Iman verdächtigt seine eigenen Familienmitglieder und lässt Frau und Töchter von einem „Verhörspezialisten“ vernehmen. Ab dann kippt die Dynamik: Aus dem Gesicht des freundlichen Familienvaters schält sich zunehmend die Fratze eines paranoid-patriarchalen Regime-Vollstreckers heraus.
Heimlich vor allem in Innenräumen gedreht, verdichtet Rasoulof seine fiktive Familienaufstellung mit den Realaufnahmen der Proteste zu einem packenden Melodram. Sowohl mit seinem Film, als auch mit seinem Auftritt in Cannes, gelang ihm ein Triumph über seine Verfolger. Bei der Premiere wogten ihm tosender Applaus und Jubelrufe entgegen.
Frauen im Wettbewerb
Ein leisen Schlusspunkt unter das Festival setzte im Wettbewerb die junge indische Filmemacherin Payal Kapadia aus Mumbai mit ihrem zartfühlenden Alltagsdrama „All We Imagine As Light“. Im Zentrum stehen zwei junge, alleinstehende Frauen, die als Pflegerinnen in einem Spital arbeiten und in einer Metropole wie Mumbai ihren Platz behaupten müssen. Kapadia reichert ihre engmaschig gestalteten Bilder mit einer dicht gewebten Tonspur an und liefert starke sinnliche Eindrücke von weiblichen Lebensgeschichten in der Megacity Mumbai.
Ihr eindrucksvoller Wettbewerbsbeitrag war der letzte von insgesamt nur vier Filmen, die heuer von Frauen stammten und im Wettbewerb von Cannes liefen. Neben Kapadia fanden sich noch die britische Regie-Veteranin Andrea Arnold mit ihrem magischen Coming-of-Age-Film „Bird“ im Programm, ebenso wie der Debütfilm „Wild Diamond“ von Agathe Riedinger. Den größten Aufreger aber bot die Französin Coralie Fargeat in ihrem Horror-Schocker „The Substance“, in dem sie die Star-Schauspielerin Demi Moore in ein blubberndes Monster verwandelte.
Drama der Verwesung
Cannes 2024 wird nicht zuletzt als Festival (des Abschieds) von alten Meistern in Erinnerung bleiben. Francis Ford Coppola legt mit „Megalopolis“ sein wahrscheinlich letztes Epos vor. George Miller wirbelte mit „Furiosa – A Mad Max Saga“ viel Sand auf. Und wie steht es um den 81-jährigen Horrorspezialisten David Cronenberg?
Sein düsteres Drama „The Shrouds“ mit Vincent Cassel und Diane Kruger in der Hauptrolle, ist ein Manifest der Trauer und des Abschieds. Tief geprägt vom Verlust seiner Frau, die nach langer Chemotherapie an Krebs verstarb, erzählt Cronenberg von einem Mann, der mittels High-Tech seiner verstorbenen Frau in ihrem Grab beim Verwesen zusieht. Das Publikum reagierte reserviert.
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