Auch heuer werden in den Branchenblättern wieder liebevoll die Applaus-Längen verglichen, inklusive einer Debatte darüber, wie aussagekräftig der Abschlussbeifall über die Qualität eines Films ist. In jedem Fall zählt zu den bisherigen Applaus-Favoriten des Wettbewerbs beispielsweise Jacques Audiards „Emilia Pérez“ mit elf Minuten. Das kam überraschend, denn die Kurzankündigung des neuen Films von dem Goldenen-Palmen-Gewinner hielt die Erwartungshaltung niedrig: Die Geschichte über einen Drogenboss, der sich zu einer Transfrau umoperieren lässt, erzählt als – Musical?
Die Kombination klang ein wenig seltsam, erwies sich dann allerdings als umwerfend: Zoe Saldaña, die man sonst eigentlich nur mit grünem Gesicht aus Marvels „Guardians of the Galaxy“ kennt oder ganz in Blau aus „Avatar“, tanzte und sang sich als Rechtsanwältin durch ein mitreißendes Drama aus dem mexikanischen Kartell-Milieu. Ihr Klient ist ein gefürchteter Unterweltler, der sich Operationen unterzieht und als Frau ein neues Leben beginnt. Großartig in ihrer Doppelrolle Karla Sofía Gascón: Ihr eindringliches, nie vordergründiges Spiel wurde an der Croisette mit dem Jubelruf „A Star Is Born“ begrüßt.
Du bist gefeuert
Die Geburt eines „Stars“ im schlechtesten Sinn beobachtet der iranisch-dänische Regisseur Ali Abbasi in seinem unterhaltsamen Wettbewerbsbeitrag „The Apprentice“. „Du bist gefeuert!“ lautete der Standardsatz von Trump in der TV-Reality-Show „The Apprentice“, mit dem er „unqualifizierte“ Kandidaten vom Set kickte. In der recht realitätsnahen Dramedy „The Apprentice“ ist allerdings Donald Trump selbst der Lehrling. Es beginnt in den 70er-Jahren in einem heruntergekommen New York, in dem der junge Trump-Erbe als Slumlord sein Geld verdient. Er will höher hinaus und träumt von Immobilieninvestitionen im großen Stil: Er träumt vom Trump-Tower.
In einem Elite-Club trifft er auf den legendär skrupellosen Rechtsanwalt Roy Cohn, wie ein giftiges Reptil sinister gespielt von „Succession“-Star Jeremy Strong. Cohn ist es, der dem jungen Trump die Imperativen seines Erfolgs – Immer attackieren! Niederlagen nie zugeben! – beibringt und auf dem Weg nach oben begleitet.
Sebastian Stan (Marvels „Winter Soldier“) verkörpert Trump mit verblüffender Präzision, ohne trotz Föhnwelle und Schmollmund in die Karikatur zu verfallen. Mindestens ebenbürtig agiert Jeremy Strong als Cohn: Er brüstet sich damit, nicht nur Julius Rosenberg, sondern auch seine Frau Ethel wegen Spionage auf den elektrischen Stuhl geschickt zu haben.
Solange Trump und Cohn als partners in crime agieren, entwickelt „The Apprentice“ mit seiner fahriger Handkamera im räudigen New York der 70er- und 80er-Jahre starkes Charisma. Dann kommt der Knackpunkt: Trump verwandelt sich in einen schamlosen Machtmenschen und lässt seinen früheren Lehrmeister Cohn kalt fallen. Ein weiterer Tiefpunkt seines Charakters offenbart sich in einer ehelichen Vergewaltigungsszene, die Ivana Trump in ihren Memoiren beschrieben hatte, später aber abschwächte.
Was genau zu diesen graduellen Veränderungen in Trumps Gebaren führte, lässt Abbasi im Dunklen: Ob es die endlosen Diätpillen sind, die Trump durchgehend einnimmt oder der Karriereerfolg – am Ende steht eine große Selbstberauschung, die ernüchtert zurücklässt. Und dem, was man bislang über Trump wusste, nicht allzu viel hinzufügt.
Demi Moore als Monster
Ein Star wird geboren – und ein anderer verglüht. Denn was passiert mit Stars, wenn sie älter werden – vor allem, wenn es sich dabei um Frauen handelt?
Einen originellen Zugang zu dieser Thematik findet die Französin Coralie Fargeat mit ihrem blutigen Wettbewerbsbeitrag „The Substance“.
Die Hauptrollolle spielt Demi Moore, einer der größten und bestbezahlten weiblichen Stars des Kinos der 80er- und 90er-Jahre. Später jedoch verschwand Moore zunehmend aus dem Fokus der Aufmerksamkeit – und dass das auch mit ihrem Alter zu tun haben könnte (Moore ist mittlerweile 61), wird zum Inhalt von „The Substance“.
Moore verkörpert darin einen ehemals gefeierten Hollywood-Star namens Elisabeth Sparkle auf dem Weg ins Ausgedinge. Weil sie nicht mehr jung genug ist, wird sie vom Boss einer TV-Station gefeuert. An ihrer Stelle soll eine jüngere Frau die Rolle als Vorturnerin der Nation in einer Sportshow übernehmen. Doch dann erhält Elisabeth Sparkle eine Art Zaubertrank, genannt „The Substance“. Wer sie einnimmt, verwandelt sich in die bessere, jüngere und schönere Version seiner selbst – doch immer nur wochenweise. Dazwischen muss man in den „alten“, eigenen Körper zurückkehren und regenerieren. Die junge Version von Demi Moore wird von Margaret Qualley übernommen – und bald treten die beiden Frauen – die Alte und die Junge – in erbitterte Konkurrenz.
Soweit, so schematisch.
Gerade, als man beginnt, sich in der etwas schlicht inszenierten Sci-Fi-Erzählung zu langweilen, reißt Coralie Fargeat das Ruder herum und kippt den Kampf der Körper in eine surreale Body-Horror-Fantasy mit spektakulären Spezialeffekten. Elisabeth Sparke injiziert sich eine Überdosis ihrer Jungbrunnensubstanz und verwandelt sich bei einem TV-Live-Auftritt im Fernsehen in einen bizarren Fleischklumpen, der unkontrolliert zu quellen beginnt, Blut spritzt und Brüste gebärt. Der alternde weibliche Star verwandelt sich in Fargeats feministischer Parodie auf Hollywoods Frauenfeindlichkeit und Schönheitskult in ein blubberndes Monster – und Demi Moore beweist Größe und Selbstironie für ihre ungewöhnliche „Comebackrolle“.
Tolles Debüt
Kein Comeback, sondern sein Debüt in Cannes feierte der somalisch-österreichische Filmemacher Mo Harawe in der renommierten Reihe Un Certain Regard.
Sein visuell atemberaubendes Drama „The Village Next to Paradise“ beginnt mit einem Fernsehbericht über einen Drohnenangriff: Ein Somalier, assoziiert mit der Terrororganisation Al-Qaida, wurde von den Amerikanern aus der Luft getötet – Medienbilder, wie man sie aus den Nachrichten kennt.
Doch Harawe unterläuft eine typisch westliche Perspektive auf „Afrika“ und bietet einen intimen Einblick in das Leben eines somalischen Dorfes und seiner Bewohner. Im Zentrum steht ein alleinerziehender Vater, der mit seinem kleinen Sohn und seiner geschiedenen Schwester zusammenlebt und um den täglichen Broterwerb ringt. Um seinem Kind eine bessere Zukunft zu garantieren, und weil die Dorfschule aufgrund von Lehrermangel schließt, bringt er ihn in einem Internat in der Stadt unter. Seine Schwester wiederum will sich selbstständig machen, bekommt aber als unverheiratete Frau keinen Bankkredit.
Die Lebensentwürfe aller drei Figuren sind geprägt von Armut, aber auch von den Auswirkungen globaler Ausbeutungspolitik wie illegalem Fischfang. Harawe verschönert die oft triste Situation in der somalischen Provinz keineswegs, aber er findet Schönheit: Seine reichen, lang anhaltenden Bilder saugen die Farben der Wüste und des Meeres in sich auf und umrahmen das eindrucksvolle Spiel seiner somalischen Laiendarsteller.
Das Publikum in Cannes war von „The Village Next to Paradise“ begeistert. In der Sektion „Un Certain Regard“ gibt es zwar keine offizielle Länge des Premierenapplauses. Inoffiziell aber wurden knapp zehn Minuten überschwängliche Standing Ovations gemessen.
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