Filme in Cannes: Die Rache der Sexarbeiterin und #MeToo
Von der Prostituierten zur Prinzessin – diesen Traum träumte schon „Pretty Woman“ und wurde zum globalen Kino-Hit. Über dreißig Jahre ist es her, seit Julia Roberts als Callgirl Karriere machte und in einem Milliardär ihren Märchenprinzen fand. Ein zeitgemäßes Update lieferte nun der US-Regisseur Sean Baker: Seine „Pretty Woman“ nennt sich Ani und ist Titelheldin seines in Cannes umjubelten Wettbewerbsbeitrags „Anora“.
Er selbst sei in den 1980er-Jahren aufgewachsen, erzählte Baker freimütig auf der Pressekonferenz: „Gut möglich, dass mich der Film ,Pretty Woman‘ unbewusst beeinflusst hat.“
Nicht zum ersten Mal beschäftigt sich „The Florida Project“-Regisseur Sean Baker mit Sexarbeit; schon in seinem iPhone-Film „Tangerine L. A.“ tauchte er ins Prostituiertenmilieu ein. Bei „Anora“ macht er von der ersten Sekunde an klar, wo wir uns befinden: Barbusige junge Frauen rekeln sich stöhnend auf dem Schoß männlicher Bar-Besucher und lassen sich Dollarscheine in den Stringtanga stecken. So auch Ani, die resolut ihren Kundenstock verwaltet und sich von niemandem Dreinreden lässt. Ein junger, reicher Russe namens Vanya findet Gefallen an ihren Moves und engagiert sie auch privat für seine Dienste. Zwischen den beiden entwickelt sich so etwas wie eine zarte Romanze. Ani übersiedelt zu ihm in das Luxusanwesen seiner Eltern und nimmt schließlich seinen Heiratsantrag an.
Die russische Oligarchenfamilie in Moskau ist darüber nicht erfreut. Sie entsendet Vanyas Patenonkel Toros in Begleitung zweier Schlägertypen, um dem Treiben ein Ende zu bereiten.
Hauptdarstellerin Mickey Madison, bekannt aus der Comedyserie „Better Things“ und „Scream“, legt so gekonnt erotische Tanz-Performances hin, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. In Kombination mit Vanya-Darsteller Mark Eydelshteyn – eine Art russische Version von Timothée Chalamet – ergibt sich eine explosive (Sex-)Dramedy. Mit fast nostalgischer Hingabe taucht Baker ins russisch-jüdische Viertel von New Yorks Brighton Beach ein. Besonders Toros und seine „Gangster“, die Englisch mit schwerem russischen Akzent sprechen, verhalten sich so, als wären sie gerade aus einem Film von Martin Scorsese gefallen – nur ohne dessen legendäre Gewaltausbrüche. Stattdessen lässt sich einer von ihnen von einer tobenden Ani sogar die Nase brechen, ehe der andere sie mit dem Telefonkabel „fixiert“.
Mit ganzem Herzen auf der Seite seiner Protagonistin, treibt Baker die Handlung temperamentvoll und vergnüglich vor sicher her. Und täuscht dabei souverän darüber hinweg, dass seine Cinderella-Story im Grunde ihres Herzens auch ein bisschen hohl bleibt.
#MeToo in Frankreich
Bereits vor Beginn des Filmfestivals in Cannes wurden Enthüllungen über (sexuellen) Machtmissbrauch in der französischen Filmindustrie angekündigt. Der vorausgesagte Skandal erwies sich zwar als Medien-Ente, doch die Problematik steht spürbar im Raum. Besonder die Schauspielerin Judith Godrèche übernahm innerhalb der französischen #MeToo-Bewegung eine bahnbrechende Rolle und stellte gleich zu Beginn der Festivals ihren Kurzfilm „Moi aussi“ vor, in dem sie Opfer sexueller Gewalt präsentierte. Auch ihre Schauspielkolleginnen Noémie Merlant und Céline Sallette wechselten ins Regiefach und machten Missbrauch zum Thema. In Merlants schriller Horrorkomödie „Die Frauen am Balkon“ antworten Opfer von sexueller Gewalt mit Gegengewalt und nehmen Rache an den Tätern. Merlant orientiert sich dabei sichtlich an den burlesken Tragikomödien eines Pedro Almodóvar, schreckt aber auch vor dramatischen Szenen wie Vergewaltigung in der Ehe nicht zurück. Ihre bunt-blutige Rape-Revenge-Fantasie strotzt vor feministischer Energie, verausgabt sich aber auch ein wenig im schrillen Knalleffekt.
Cèline Sallettes Bio-Pic „Niki“ wiederum widmet sich der Lebensgeschichte der berühmten modernen Malerin und Bildhauerin Niki de Saint Phalle. Als Kind über Jahre hinweg vom Vater missbraucht, leidet die junge Niki an Angststörungen. Sie wird in die Psychiatrie eingeliefert, wo sie ihre Leidenschaft für die Kunst entdeckt und zum Ventil ihres erlittenen Traumas macht. Ähnlich wie Noémie Merlant, greift auch Céline Sallette die Anliegen von Judith Godrèche auf – und verabschiedet sich nach einem Gespräch mit dem KURIER mit der feministischen Kampfansage „Take the Power!“
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