Putin-Kenner in ORF-Talk: "Was kann ich für russische Schulbücher?"

Die Diskussion zu einem Jahr Krieg in der Ukraine wurde - untypisch für "Im Zentrum" - ziemlich heftig geführt.

* Disclaimer: Das TV-Tagebuch ist eine streng subjektive Zusammenfassung des TV-Abends *

 

Seit nun beinahe einem Jahr tobt der Krieg in der Ukraine. „Was kann Putin stoppen?“, fragte Claudia Reiterer am Sonntag bei „Im Zentrum“.

Dazu war eine ziemlich konfrontativ aufgestellte Runde eingeladen. Da war zunächst ein aus verständlichen Gründen ziemlich schlecht gelaunter ukrainischer Botschafter.

Vasyl Khymynets stellte klar, dass aus der Sicht der Ukrainer der Krieg bereits 2014 begonnen habe. „Frieden wollen wir“, sagte er. Aber die Voraussetzungen für einen Frieden seien aus ukrainischer Sicht „einfach und logisch“: Ein Wiederherstellen der territorialen Integrität der Ukraine, in den völkerrechtlich anerkannten Grenzen. Das schließe auch die Krim ein. Außerdem russische Reparationszahlungen für alle Schäden. Und die russische Führung und Verantwortliche für Kriegsverbrechen müssten auf einer Anklagebank Platz nehmen.

Wenn selbst Diplomaten nur noch undiplomatische Formulierungen finden, dann ist klar ersichtlich, wie verfahren der Karren ist.

Hinsichtlich der aktuellen Debatte um Friedensverhandlungen wurden zwei Extrempositionen aus dem Europäischen Parlament vorgestellt.

Özlem Alev Demirel, aus der Fraktion der Linken, betonte die „Weltkriegsgefahr“. Jene, die Waffen liefern, würden dies tun, „ohne klar zu benennen, was das Ziel dieses Krieges ist.“ Es sei ein Abnutzungskrieg mit einer sich drehenden Eskalationsspirale, dies gehe einher mit einer wirtschaftlichen Auseinandersetzung, die für  Inflation und steigende Preise sorgt. Sie wolle, dass "endlich die Stimme der Völker gehört wird, die sich mehrheitlich dafür aussprechen, endlich eine politische Lösung zu finden.“

Botschafter Khymynets griff hier bereits ein: Es müsse "vor allem die Stimme des Volkes gehört werden, das Opfer in diesem Krieg ist.“

Das gestand Demirel zu.

Und diese Stimme des Volkes sei sehr eindeutig. Laut aktuellen Umfragen würden 90 Prozent den Krieg befürworten, „bis alle Gebiete wieder befreit sind“. Er betonte, dass viele ihre Heimat auf Krim verloren hätten, als 2014 die grünen Männchen aus Russland aufgetaucht sind. „Frieden kann nur kommen, wenn die Ukraine genug ausgerüstet wird“, sagt er. Es ist freilich auch die Linie seines Präsidenten Wolodimir Selenskij.

Die liberale EU-Abgeordnete Róza Thun aus Polen, befindet sich auch auf dieser Linie. Sie macht sich Sorgen um die Einigkeit der EU-Partner, man müsse aber entschlossen mit der NATO zusammenstehen. Ihr flammender Appell: „Ich meine, wir sollen auf die Ukrainer hören, sie wissen am besten, was sie brauchen. Und natürlich muss man verhandeln, aber man kann mit Putin nur aus der Position des Gewinners, des Stärkeren, verhandeln.“

Man dürfe die Ukrainer daher nicht im Stich lassen, Europa dürfe „nicht akzeptieren, dass Stücke von einem souveränem Land abgeschnitten werden“ . Die Vorbildwirkung für Länder wie Türkei oder China wäre fatal. „Wir dürfen das nicht akzeptieren und liefern das, was die Ukrainer verlangen.“ Man müsse sich darüber im Klaren sein, „dass sie für uns alle kämpfen. Und wenn wir  ein schnelles Ende dieses fürchterlichen Krieges haben wollen, dann müssen wir die Ukraine so stark und so entschlossen unterstützen, wie es nur geht.“

Österreichische Unterstützung bröckelt

Laut einer Umfrage, die Claudia Reiterer zitierte, bröckelt diese Unterstützung in Österreich schon deutlich. Unique Research fragte, ob die Ukraine in Friedensverhandlungen eintreten solle, auch wenn dies Gebietsverluste bedeuten könnte. 65 Prozent waren dafür, und 21 wollen demnach, dass die Ukraine weiter kämpft.

Militärstratege Markus Reisner sprach sich für „eine objektive und neutrale Bewertung der Situation“ aus. Er stimme aber dem Botschafter zu, „dass nach dem Zerfall der Sowjetunion, die ukrainische Bevölkerung und zwar in allen Oblasten sich mit überwältigender Mehrheit dafür ausgesprochen hat, ein eigenständiges Land zu sein. Das dürfen wir nicht vergessen.“ Auch er erinnerte daran, dass Russland bereits seit 2014 als Aggressor in der Ukraine auftrete. Dabei hätte Putin für seine Interessen auch mit „soft Power“ anwenden können, "hat es aber nicht getan. Es hat sich für den militärischen Weg entschieden und das ist ein eindeutiger Völkerrechtsbruch.“

Russland habe sich aber beim Einmarsch am 24. Februar verkalkuliert und versuche, dieses Missgeschick wieder wettzumachen. Mit dem Versuch, der Ukraine einen Abnützungskrieg aufzuzwingen. „Die große Gefahr besteht, dass Russland das, was der Westen zusammenbringt, auf der Zeitachse aussitzt. Denn Russland denkt, lass wir schwach sind im Westen, und es braucht nur warten, bis uns die Luft ausgeht, und dann wird es trotzdem diesen Sieg für sich erreichen können, wie auch immer der dann definiert ist. Und die große Gefahr besteht, dass die Ukraine hier im Stich gelassen wird vom Westen und dass es nicht das bekommt, was es braucht.“

Der Westen müsse andererseits auch moderat vorgehen muss und "sehr nuanciert“. Denn es könne „natürlich dazu kommen, dass Russland in die Enge getrieben wird, und dann, muss man leider auch zugestehen, ist natürlich ein möglicher Einsatz von Atomwaffen durchaus ein Thema.“

Daher würden immer nur so viele Waffen geliefert, dass die Ukraine genug hat, um diesen Abwehrkampf weiterführen zu können, aber auch zu wenig, dass sie gewinnen könnte.

Kontroverse

Hier spießte es sich immer wieder mit der Ansicht von Demirel, die für Friedensverhandlungen eintrat. Aber für am meisten Kontroverse sorgte der Journalist, Dokumentarfilmer und Putin-Kenner Hubert Seipel.

Zunächst stellte Seipel gleich einmal seinen Status als Putin-Kenner unter Beweis: „Ja, ich habe ihn letzten September getroffen, ja, in Moskau.“

Reiterer: „Was bespricht man da?

Seipel: „Ich mache ein weiteres Buch und schau mir an, welche Begründungen, welche Gründe der eine und der andere hat in dem Zusammenhang. Das bespricht man da in dem Zusammenhang und Putin hat auf meine erste Frage, warum er denn den Krieg jetzt begonnen hat, mit einer Gegenfrage geantwortet. Und die Gegenfrage war ganz simpel. Er hat gefragt, ob ich mich zufällig noch erinnere, dass es im November '19 noch das Militärbündnis zwischen Ukraine und den USA gegeben hat? Ob ich mich zufällig noch daran erinnern würde, beispielsweise, dass die Ukraine gleichzeitig zum bevorzugten Partner für die NATO ausgerufen worden ist? Ob ich mich zufällig noch erinnere, dass die Minsk-II-Verhandlungen, die ja im Grunde genommen eingerichtet wurden sind als UN-Resolution 2202, also mit durchaus völkerverbindlichem Charakter zu nichts geführt hat nach dem Umsturz, der passiert ist auf dem Majdan und er hat das alles aufgeführt in dem Zusammenhang, hat dann natürlich versucht, Argumente in dem Zusammenhang zu bringen.“

Reiterer: „Hat Putin Ihre Frage beantwortet?“

Seipel: „Er hat das in dieser Art und Weise natürlich getan.“

Keine Analyse

Man hat aber nicht den Eindruck, dass Seipel Putins Argumente zuerst wiedergibt und dann einer kritischen Analyse unterzieht. Man hat eher den Eindruck, dass er Putins Spin, der Westen habe den Krieg verursacht, das Wort redet.

Daher hilft recht wenig, was er danach sagte: „Krieg ist natürlich immer eine Tabuverletzung. Das Problem passiert alle Regeljahre wieder, immer wieder seit tausenden von Jahren. Der Punkt ist, wie kommt es zu diesem Krieg und der zweite Punkt ist in dem Zusammenhang, warum ist es immer eine Bankrotterklärung für die Politik, dass dann keine Lösung gefunden wird?“ Es gebe immer Tausende von Opfern, bevor am Ende eine Verhandlungslösung gefunden werde.

Mit Kritik an Putin tat sich der Kenner nicht hervor. Ein Putin-Kenner bezieht seine Bedeutung auch dadurch, dass das Subjekt, das er gut kennt, weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Sollte Putins Weg irgendwann vor einem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag enden, ist die Kennerschaft wohl nicht mehr von entscheidender Bedeutung. Vielleicht beeinflusst auch das die Kenntnis über die Person, über die man bevorzugt schreibt. Zwischen dem Putin-Kenner und einem Putin-Versteher besteht dann fast kein Unterschied mehr.

Eines stellt die Kompetenz als Kenner aber besonders in Frage. Wenige Tage vor dem Beginn der russischen Aggression, als viele Anzeichen bereits darauf hindeuteten, zeigte sich Seipel im Februar 2022 noch felsenfest davon überzeugt, dass Putin die Ukraine nicht angreifen werde.

Vermintes Diskursfeld

Im Dialog mit dem ukrainischen Botschafter betrat man dann ein vermintes Diskursfeld.

Khymynets bezeichnete Putin als „Neoimperialist mit wahnsinnigen Ideen“, mit "pseudohistorischer Argumentation: Er will alle slawischen Länder versammeln …“

Seipel: „Woher wissen Sie denn das alles? Sie machen eine psychologische Studie, die im klassischen PR-Jargon läuft.“

Khymynets: „Unterbrechen Sie mich nicht bitte.“

Er sagte, Russland habe sich seit Langem auf einen hybriden Krieg vorbereitet.

Seipel will wissen, „Welche hybriden Elemente?“

Khymynets nennt einige Beispiele, Eingreifen in Georgien, auf der Krim und im Donbass, den Abschuss des Flugzeuges MH 17, Tötungen in Europa, die Russland zugeschrieben werden. Und dann wendet er sich an Seipel: „Ich habe auch Ihre Sendungen gesehen, wie Sie das alles gerechtfertigt haben.“.

Dann bezieht er sich auf das von Seipel erwähnte Minsker Abkommen und erwähnt ein aktuelles Interview mit dem ehemaligen Putin-Berater Wladimir Surkow. Der hatte auf die Frage „Sind Sie bei der Arbeit an den Minsker Vereinbarungen davon ausgegangen, dass sie umgesetzt werden müssen?“ mit einem schlichten „Nein“ geantwortet.

Khymynets schließt also daraus: „Russland hatte nie die Absicht, diese Verträge zu erfüllen. Da schauen Sie mal. Also wenn …“

„Entschuldigen Sie einmal“, sagte Seipel.

Nach einem weiteren Hin und Her sagte der Putin-Kenner dann: „Entschuldigung, in der ganzen Diskussion gibt es die alten Kriegspropagandasätze. Da heißt es immer, der Gegner ist verrückt, sonst würde er so was nie machen. Der Gegner kämpft mit unlauteren Waffen, wir sind auf der richtigen Seite, wir haben das Recht…"

Reiterer sieht Seipel wieder abgleiten und wollte ihn daran erinnern, dass auch Putins Rede vom 21. Februar 2022 (von Reisner) angesprochen war. Und dass es auch schon russische Schulbücher gebe, wo die bisher eroberten Gebiete bereits als Russisch deklariert wurden. „Also, dass er es von der Landkarte streichen will, da gibt es eben genug…"

„Was kann ich für russische Schulbücher?“ sagte Seipel nun, schon ziemlich unwirsch.

Seine relativierende Erklärung: „Es gibt Propaganda überall und auch da gibt es Propaganda. Kommen wir doch mal zu der Realpolitik, wie dieser Krieg letztendlich entstanden ist und wo er hinführt möglicherweise.“

Jetzt sind wir wieder beim Westen.

"Zu viel Zeit mit Putin verbracht"

Putins Kriegsziel zu erklären, "das ist ziemlich einfach“, meint Seipel. „Erstens den Vormarsch der NATO zu stoppen, den er immer angeprangert hat.“ Er spricht einen Verhandlungsvertrag vom Dezember 2021 an, der von der USA und der NATO abgelehnt worden sei, Seipel greift wieder zurück auf den Majdan und plötzlich ist er bei einer „Unabhängigkeitserklärung, die kann man sehen, wie man will, aber die gab es tatsächlich im Donbass.“

Khymynets: „Welche Unabhängigkeitserklärung?“

Seipel: „Im Donbass selber, Sie entsinnen sich noch? Es gab Abstimmungen gleichzeitig.“

An diese von vielen Beobachtern übereinstimmend als Scheinreferenden bezeichneten Abstimmungen erinnert man sich sehr wohl. Die Unabhängigkeit der Separatistengebiete wurde bisher von Russland anerkannt, und von Belarus unterstützt. Aber dahinter tut sich nicht viel in der Weltgemeinschaft.

„Sie verkennen die Realität“, sagt Khymynets.

„Ja, das mag ja so sein“, sagt Seipel. „Da geht es mir wie Ihnen in dem Zusammenhang.“

Khymynets: "Sie haben wahrscheinlich zu viel Zeit mit Putin verbracht.“

Seipel: „Jeder hat die Realität, die er haben will offenkundig.“

Dann kommt er wieder auf Minsk II zu sprechen, Khymynets hält ihm noch einmal den Putin-Berater Surkow vor.

Was Seipel zu der Aussage bringt: „Was interessiert mich ein Assistent?“

Ja, was interessiert einen die Aussage eines Beraters, wenn man mit Putin sprechen kann. Diese Szenerie war teilweise gespenstisch.

Auch der sonst besonnen analysierende Bundesheer-Oberst Reisner drehte dann noch an der Eskalationsspirale der Diskussion.

Er wollte die Frage, um die es in der Ukraine geht, „ganz drastisch herunterbrechen. Nämlich die Frage nach der Moral. Stellen Sie vor ihre Nachbarin wird vergewaltigt …“

Seipel: „Hören Sie mit dieser Uralt-Frage auf …“

„Genau um diese Frage, um die geht es. Und Sie sehen das“, sagt Reisner.

Jetzt wurde Seipel hektisch: „Das ist eine Uralt-Nummer, mit der man versucht … Das ist eine Fangfrage. PR. Die Ukraine wird nicht vergewaltigt.“

Reisner fährt fort mit der Metapher der Vergewaltigung: „Und Sie tun nichts, weil Sie sagen, dann müsste ja jeder helfen. Es geht genau um das am Ende des Tages.“

Am Ende stand der Krieg nicht mehr nur als Elefant im Raum, sondern auch in Form eines Kleidungsstücks.. Der Offizier sagte: „Ich trage diese Uniform als Soldat, weil ich weiß, was das bedeutet, in den Krieg zu ziehen, ja.“ Er verwies auf Orden aus dem  Auslandseinsatz in Afghanistan.

„Und eines ist klar, wenn ein Volk für sich selbst entscheidet, sich verteidigen zu wollen, dann ist es nicht unser Recht, dem Volk zu sagen, was es tun muss.“ Das sei genau die Situation jetzt. „Also wenn die Ukraine sagt. Wir sind bereit, diesen Kampf weiterzuführen, dann muss man sie auch dabei unterstützen, aber man kann darüber denken, man kann darüber diskutieren, wie weit man geht oder nicht.“

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