90-jährige Marvel-Geschichte
Neben der Vorstellung von neuen Superhelden bietet die Serie in der vierten Folge auch einen Rückblick in die mehr als 90-jährige Marvel-Geschichte (ein Interview mit Regisseur Paul Scheer lesen Sie weiter unten). Auch auf Charaktere aus alten Comic-Büchern, die es (noch) nicht auf die Kino-Leinwand geschafft haben. Der Verlag hält die Rechte an rund 8.000 Supermännern und -frauen, darunter Spider-Man, the X-Men, Iron Man, Hulk, Silver Surfer und die „Guardians of the Galaxy“. Kein Wunder, dass Disney im Jahr 2009 das erfolgreiche Marvel-Imperium gekauft hat. Seither bringen die seltsamen Figuren beinahe schon mehr Geld ein als Donald und Micky Maus. In den letzten 20 Jahren wurden rund 30 Marvel-Comics verfilmt. Zusammen haben diese Filme 4,5 Milliarden Dollar gekostet und mehr als 15 Milliarden eingespielt.
Dass den Superhelden die Luft ausgeht, ist auch in Corona-Zeiten nicht zu erwarten. Schließlich haben sie bereits ihre „Nazi-Vergangenheit“ erfolgreich hinter sich gebracht. Ende der 1930er wurden nämlich die Marvel-Hefte zum Verkaufsschlager in den USA. Die Geschichte(n), die sie erzählen: Comic-Helden kämpfen gegen die Nazis und wurden daher auch von der Zensurbehörde überwacht. Nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg wurde das Kriegsgeschehen auch für „Captain America“ bestimmend. Er nahm den Kampf gegen die Nazis auf und stieg damit zu einem amerikanischen Superhelden auf.
In dieser Zeit war das Marvel-Zentrum New York, wo die Immigranten aus Osteuropa landeten. Die Eltern brachten von dort ihre bildmächtigen Legenden und fantastischen Geschichten mit und gaben sie an ihre Kinder weiter – die sie in Comics verwandelten. So wurde etwa aus dem Golem der an sich gutmütige, aber jähzornige „Hulk“.
Die Geschichten, die die Marvel-Comics erzählen, handeln bis heute von andersartigen Außenseitern, die keine Heimat und keine Eltern haben, die helfen und sich wehren wollen. Im Marvel-Universum tragen sie gerne Masken. Anonym und in hautengen Kostümen ziehen sie in den Kampf für das Gute. Sie heißen Super-, Spinnen- oder Fledermausmann und treiben ihr (Un-)Wesen bis heute. Mit „Superman“ wurde übrigens Friedrich Nietzsches Konzeption des Übermenschen in eine moderne Bildsprache übersetzt. Ob die Comic-Zeichner vor ihrer „Erfindung“ ihres Supermannes Nietzsche so genau gelesen hatten, sei dahingestellt.
Schon in den 1990ern und frühen Nuller-Jahren gab es Superheldenfilme mit Marvel-Figuren. Inzwischen sind sie ironischer und politischer geworden. Auch in den Spider-Man-Film „Far From Home“ hat sich sehr viel Zeitgeist geschlichen. Die Waffen des Bösewichts Mysterio sind Lügen und Illusionen – mit anderen Worten: Fake News.
Was Donald Trump betrifft, so tauchte er bisher zweimal in Comics auf. Bei seinem ersten Auftritt versperrt seine protzige Limousine die Notaufnahme-Zufahrt eines New Yorker Krankenhauses. Bis Luke Cage – ein schwarzer Superheld – kommt und den Wagen aus dem Weg räumt. Seinen zweiten Auftritt absolvierte Trump als fieser Riesenroboter, der eine Mauer zwischen Mexiko und Texas errichten will. Womit sich die Frage erhebt: Wie viel Politik verträgt die Marke „Marvel“ eigentlich? Denn einer der wichtigsten Märkte für diese Comics ist heute China. Ausgerechnet hier sind die Helden, die zusammen für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen, besonders profitabel.
„Marvel’s 616“ ist bei Disney+ abrufbar.
Nachgefragt bei Paul Scheer: "In Zeiten wie diesen kann man viele Superhelden brauchen"
Regie bei Folge 4 von „Marvel’s 616“ führte der Schauspieler und Stand-up-Comedian Paul Scheer.
KURIER: Haben Sie bei Ihrer Suche in den Marvel-Archiven auch Comic-Helden gefunden, die man für die heutige Zeit wieder hervorholen sollte?
Paul Scheer: Da gibt es eine ganze Menge, denn in Zeiten wie diesen kann man viele Superhelden brauchen, die uns die Flucht aus dem Alltag erleichtern können. Dabei geht es nicht um ihre Superkräfte, sondern um die Möglichkeit, die Welt vor unseren Fenstern mit anderen Augen zu sehen. Eine der klassischen Figuren, die in die heutige Zeit passen, ist „Microbe“. Ein X-Man, der mit Krankheitserregern und Viren kommunizieren und sie vertreiben kann.
Welche dieser vergessenen Marvel-Helden haben Sie am meisten beeindruckt?
Da gab es zum Beispiel eine Kuh, die von einem Vampir gebissen wurde, die daraufhin zur „Hell-Cow“ mutierte, die Spaziergänger attackierte. Oder ein fahrender Ritter, der Konzerte gab. Wie eine Mischung aus Minnesänger und Rock-Star. Oder ein Lastwagenfahrer, der in seinem Kopf eine Fernsteuerung und ein Navi-System implantiert hat. Die Comic-Zeichner, die vor beinahe einem Jahrhundert solche Figuren entwickelten, hatten offenbar hellseherische Fähigkeiten. So wurde etwa in den 1960er Jahren der „Black Panther“ erfunden. Er war der erste schwarzafrikanische Superheld. Er war somit ein Zeitgenosse von Martin Luther King und Malcolm X, die damals für Gleichberechtigung kämpften.
Sehen Sie auch eine Gefahr darin, wenn sich junge Menschen zu sehr mit Superhelden identifizieren?
Nein, die sehe ich nicht. Denn es wurde immer darauf geachtet, dass man sich mit den Marvel-Helden nicht nur wegen ihrer Superkräfte identifizieren kann, sondern vor allem wegen ihrer menschlichen Qualitäten. Sogar die Roboter und Monster bedienen ein menschliches Wertesystem, das zwischen Gut und Böse klar unterscheidet. Und in den zugrunde liegenden Geschichten geht es immer um Beziehungen, um familiäre Bindungen. Dazu kommt auch noch ein Schuss Humor und Schlagfertigkeit – mit Fäusten wie mit Worten.
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