Hitzige Schuldebatte: Spitzenbeamter kritisiert "Arroganz" bei Schüler

Hitzige Schuldebatte: Spitzenbeamter kritisiert "Arroganz" bei Schüler
Beim ORF-Talk "Im Zentrum" ging es um Kinder und Jugendliche in der Pandemie. Der Vertreter des Bildungsministeriums rüffelte am Ende einen aufmüpfigen Schulsprecher.

*Disclaimer: Das TV-Tagebuch ist eine streng subjektive Zusammenfassung des TV-Abends.*

Wir haben die Sommerpause von „Im Zentrum“ hinter uns und scheinen weiterhin in einer Endlosschleife gefangen. Corona hat die Themenlage fest im Griff, denn Moderatorin Claudia Reiterer fragte am Sonntagabend: „Kinder in der Pandemie - Von der Politik im Stich gelassen?“

Ja, findet Schulsprecher Mati Randow von der AHS Rahlgasse in Wien. Er hat den sogenannten „Wutbrief“ von 32 Wiener Schulsprechern angesichts des allgemein als konfus beschriebenen Schulstarts initiiert.

Nachdem die Jugendlichen „in einem enormem Ausmaß“ Solidarität mit der älteren Bevölkerung gezeigt hätten, sei dann nichts zurückgekommen, erklärt Randow. „Zuerst hieß es, wir sind die Partyjugend, dann waren wir plötzlich die Gefährder vom Donaukanal, uns wurde nie Platz gegeben. Und jetzt haben wir schon den zweiten Schulstart unter Corona und schon wieder wurde keine Verantwortung übernommen vonseiten der Politik. Es wurde Monate lang gesagt, der Sommer darf nicht verschlafen werden, die Fehler vom letzten Jahr dürfen nicht wiederholt werden. Und dann wurde der Sommer verschlafen und die Fehler vom letzten Jahr wiederholt.“

IM ZENTRUM: Kinder in der Pandemie - Von der Politik im Stich gelassen?

Viel zu tun

Das Bildungsministerium hat Generalsekretär Martin Netzer geschickt, um die Vorwürfe zu entkräften. Der Spitzenbeamte beschreibt den logistischen Aufwand, der zu bewältigen gewesen sei, bereits im Mai habe man die Ausschreibungen vorgenommen. „Bis zu 2,5 Millionen Antigentests pro Woche und bis zu 1,1 Millionen PCR-Tests pro Woche fallen nicht vom Himmel“, meint Netzer. Das sei eine Verzwölffachung von dem was davor bundesweit getestet worden sei. Das Ganze sei für 6.000 Schulen zu planen, Netzer vergleicht das mit dem Einzelhandelskonzern REWE, der 2.000 Filialen habe.

Zwei Wochen vor Schulbeginn habe man bekanntgegeben, wie das Schuljahr laufen wird. Das, „was von außen reinkommt“, könne man nicht steuern. „Das Virus lässt sich nicht planen", so Netzer.

Schulsprecher Randow beeindruckt das nicht. „Schön, dass Sie sich loben“, meint er. Aber es sei wieder die Verantwortung auf die Schüler abgeschoben worden, „weil wir das Virus von außen in die Schulen hineintragen, das ist einem Bildungsministerium nach eineinhalb Jahren Pandemie nicht würdig.“

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner bekräftigt die Kritik des Maturaklässlers. Man hätte erkennen müssen, dass die Durchimpfungsrate im Land viel zu niedrig sei und bereits für den Urlaubssommer entsprechende Testkonzepte entwickeln müssen („Strichwort: Reiserückkehrer“). Nun würden Eltern, Lehrer und Schüler mit verwirrenden, seitenlangen Informationen alleingelassen, das könne man nur „Management by chaos“ nennen.

Netzer pocht auf Solidarität. Man dürfe nicht mehr „mit dem Finger auf andere Gruppen zeigen“, "aus dieser Kiste müssen wir raus“.

„Aber das machen Sie ja gerade“, meint Rendi-Wagner.

Netzer sieht hier ein Missverständnis. Daraufhin erklärt er, dass die im Sommer von den Modellrechnern vorgelegten Impfprognosen nicht gestimmt hätten, „wie hätten wir das im Bildungsministerium wissen sollen?“

„Also die anderen haben sich verrechnet“, ergänzt Reiterer trocken.

Mikrobiologe: Mehr PCT-Tests statt Quarantäne

Zu den mittlerweile bereits 700 in Quarantäne befindlichen Schulklassen sagt der Mikrobiologe Michael Wagner: Die Wissenschaft habe bereits im Frühjahr auf das „Riesenproblem“ der Quarantäne hingewiesen, die Sicherheitskonzepte seien auch ans Ministerium gegangen. Seine Grundthese: Es brauche keine Quarantäne, wenn man drei Mal in der Woche PCR-testen würde, „weil man Infektionsfälle durch die viel höhere Sensitivität von PCR viel früher erkennt und Infektionsketten früh durchbricht.“ Das sei mit nur zwei Mal PCR in der Woche nur partiell umgesetzt worden, in Wien teste man immerhin zwei Mal pro Woche mit PCR.

Was Wagner gar nicht versteht: „Man reagiert auf hohe Infektionszahlen, indem man lockert.“ Er meint damit die Reduzierung der Qurantänepflicht auf die unmittelbaren Sitznachbarn, was aus epidemiologischer Sicher unverständlich sei.
Man müsse die Maßnahmen auch an die altersspezifische Inzidenz koppeln, um Kinder zu schützen. Dass man hier die allgemeine Inzidenz als Kriterium heranziehe, „lässt die Vermutung entstehen, dass es gar nicht so sehr um den Schutz der Kinder geht.“

Wagner bekräftigt: „Für Kinder ist das keine harmlose Erkrankung.“

Verteidigerin der psychischen Gesundheit

Gesundheitspsychologin Judith Raunig sieht die virologische Sicherheit viel zu überbetont, das psychosoziale Thema werde völlig außer Acht gelassen. „Wir fahren mit 100 km/h gegen die Wand, die Politik habe sich für eine Eskalationsstrategie entschieden, die Maßnahmen seien nicht wissensbasiert gewesen, nicht verhältnismäßig, „dann hat man Angst und Panik geschürt und den Kindern alles weggenommen, was in irgendeiner Weise stärkt.“ Sie kritisiert, dass Kinder Bezugspersonen wie Großeltern nicht mehr sehen durften.

Raunig greift zu mehreren bunten Kärtchen und liest Ergebnisse der Schabus-Studie vor. Zum Beispiel: 72 Prozent der Kinder gehe es schlechter als vor der Pandemie.

Das kleinere Übel

Jetzt könnte man denken, dass der Vertreter der Jugendlichen in dieses Lied einstimmt, aber weit gefehlt. Hier spricht ein kühler Kopf Folgendes gelassen aus:

„Dass es jugendlichen Menschen in der Pandemie nicht gut geht, ist jetzt nichts Erstaunliches. Hätte ich jetzt nicht bunte Karten gebraucht, um zu sagen, dass wir jetzt mehr vorm Bildschirm sitzen und weniger rausgehen, wenn es Lockdowns und Distance Learning gibt, also ich sehe den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn jetzt nicht.“

Das mag zwar nach jugendlicher Frechheit klingen, Randow zeigt aber, dass er mehr an das große Ganze denkt als andere Mitdiskutanten oder Mitdiskutantinnen. Denn: „Grundsätzlich ist immer die Frage, was ist die Alternative? Und wenn wir sehen, dass wir ein gefährliches Virus haben, … da gehören Sie zur Ausnahme, … aber die Alternative wäre, dass man zum Beispiel Artikel 24 der UN-Kinderrechtskonvention bricht, nämlich das Recht jedes Kindes auf das höchste erreichbare Maß an Gesundheit.“ Dazu seien die Anti-Coronamaßnahmen aus seiner Sicht das geringere Übel. Wobei man mit „gescheiteren Maßnahmen“ - das sagt er in Richtung Netzer - hier besser vorsorgen könnte.

Netzer: "reaktiv bleiben"

Netzer erblickt in dem Gegensatz zwischen Raunig und Mikrobiologie Wagner „das ganze Dilemma“. Auf der einen Seite: „Nicht Lockern“ und auf der anderen Seite: „Recht auf Bildung“.  „Alle wollen, dass die Kinder in die Schule gehen, aber keiner will, dass sich ihr Kind ansteckt, das sind die Pole zwischen denen wir uns bewegen“, sagt Netzer. Diese Gegensätze ließen sich fürs Bildungsministerium nicht auflösen, „wir können nur reaktiv bleiben“.

Netzer versucht dann, den Stufenplan der Regierung auf die Schulen herunterzubrechen. Rendi-Wagner kritisiert, dass Eltern diesen Stufenplan unmöglich verstehen könnten, dabei sei man bereis in der dritten Schulwoche. Man dürfe sich dann nicht wundern, wenn die Verunsicherung groß ist und es massenhaft Abmeldungen vom Schulbesuch gebe.

Rendi-Wagner: "Virus im vierten Stock"

Reiterer möchte von ihr wissen, was jetzt zu tun sei.

Rendi-Wagner bleibt aber bei der Problembeschreibung. Sie sagt: „Während die Regierung in Stufe zwei ist, ist das Virus längst im vierten Stock“

„Es gibt große Pressekonferenzen mit Ankündigungen von Stufenplänen, und am Ende, um das Ganze zu erklären, sitzt ein Sektionschef in der Runde.“ Und dies sei „nicht vertrauensstiftend, sondern vertrauensschwächend“.

Rendi-Wagner war übrigens vor ihrer Zeit als Parteipolitikerin einmal Sektionschefin im Gesundheitsministerium und auch da schon recht präsent im Fernsehen.

Long Covid auch bei Kindern

Michael Wagner reagiert dann auf Raunigs Kritik an engmaschigen Anti-Corona-Maßnahmen. Long Covid bei Kindern gebe es, auch Gehirnveränderungen seien festgestellt worden, das spiele sich zwar im niedrigen einstelligen Prozentbereich aber, aber bei mehr als einer Million Schülern sei das eine relevante Zahl.

Und er argumentiert: „Was macht es auch psychologisch mit einem Kind, wenn es später vielleicht erfährt: Ich habe die Krankheit nach Hause gebracht, ich hab meine Eltern angesteckt? Ein Kind kann nicht entscheiden, ob seine Eltern geimpft sind.“

Raunig lässt das überhaupt nicht gelten und sagt: „Ein Kind kommt ja nicht selbst auf die Idee: ich bin schuld, sondern: das wird ihm gesagt.“ Raunig nennt Werbespots mit der sinngemäßen Aussage: „Besuch nicht deine Oma, dann könntest du deine Oma anstecken.“

Jetzt muss auch Ihr Tagebuchschreiber sich zu Wort melden: Selbstverständlich werden Kinder irgendwann einmal wissen wollen, warum die Oma jetzt tot ist. Soll man sie dann etwa anlügen?

Raunig bleibt bei ihrer Extremposition: „Es wird noch immer ganz viel investiert, um dieses Angst-Level aufzuladen, ängstliche Eltern machen ängstliche Kinder.“ Covid sei für Kinder einfach zu wenig riskant, sie versucht das auch mit ein paar hastig zusammengefassten Studien zu untermauern.

Die Gesundheitspsychologin pocht auf Verhältnismäßigkeit. Raunig fragt, ob die Anschaffung von Luftreinigern wissensbasiert ist.

„Ist wissensbasiert“, sagt Rendi-Wagner.

Wiener Wirbel

Was fehlt jetzt noch in dieser Diskussion? Genau, das Wien-Bashing.

„Wo ich in der Bevölkerung wenig Infektionen hab, hab ich wenig Wirbel an den Schulen. In Wien hatten wir eine hohe Infektionsrate, da haben wir einen Wirbel gehabt“, sagt Netzer. „Wien hat uns zwei Wochen vor Schulbeginn damit überrascht, dass gegurgelt werden soll, das war leider wirklich sehr knapp, was Wien da eingetaktet hat.“ Vom Ergebnis her sehe er aber zwei PCR-Testungen pro Woche positiv.

Er stellt sich an die Seite Raunigs und ortet bei Wagner „Alarmismus“. „Wir sind am Ende der Pandemie und da müssen wir uns doch vom Krisenmodus auch einmal verabschieden können“, sagt der Beamte. „Wir können nicht immer Zeter und Mordio schreien, weil wir den Kindern ein Minimum an Bildung schuldig sind.“

"Testen tut nicht weh"

Diesen Vorwurf kann Wagner natürlich nicht gelten lassen. Durch die bereits erwähnten dreimaligen PCR-Tests pro Woche soll, im Gegenteil, „ein Maximum an Bildung ermöglicht werden“. Durch Antigentests würden hingegen achtzig Prozent der Infektionen übersehen.

Hier werde auch immer etwas falsches suggeriert, findet Wagner. „Testen tut nicht weh, so Wagner, Testen ist keine Bestrafung.“ Es solle auch kein Anreiz fürs iMpfen sein, sich nicht testen zu müssen. Was ist denn dabei, kurz zu gurgeln oder kurz zu spülen?

Für Raunig ist viel dabei: „Aber Testen suggeriert, dass ein gefährliches Virus immer da ist …“

„Weil ein gefährliches Virus noch immer da ist, Entschuldigung“, entgegnet Randow.

„Das ist eine Naturkatastrophe, das machen ja nicht Wissenschafter“, sagt Wagner.

Und Rendi-Wagner assistiert: "Indem ich dem Kind einen Fahrradhelm empfehle, suggeriere ich auch, dass ein Verkehrsunfall etwas Gefährliches ist." Das Testen sei wissenschaftlich anerkannt und habe „nur das Ziel Kinder und Erwachsene bestmöglich zu schützen“ und einen guten epidemiologischen Überblick zu gewährleisten, um rasch reagieren zu können.

Gegen Ende der Diskussion wird die Debatte immer kurzatmiger und heftiger.

Netzer fühlt sich von den Gesundheitsbehörden im Stich gelassen, schließlich handle es sich um ein Gesundheitsthema.

Rendi-Wagner präzisiert: „Die Bundesregierung ist zuständig.“

Randow  fordert schließlich noch eine Impfpflicht für das Bildungspersonal, um Kinder und Jugendliche noch mehr zu schützen.

Netzer bescheidet dieser Forderung ein klares Nein, die Gesamtgesellschaft müsse erst einmal, wie die Lehrer, eine Impfrate von 83 Prozent erreichen.

Es folgt der Gegenvorwurf: Warum unter den Schülern das Impfen nicht mehr propagiert werde?

Randow sagt, er sei von Klasse zu Klasse gegangen.

Wagner kritisiert, dass Eltern und Schüler verschiedene, gegensätzliche Botschaften bekämen. Einerseits, das Virus sei für jüngere Personen nicht gefährlich, andererseits: Bitte lasst euch jetzt impfen.

Der Bildungsbereich sei ein „riesiges Reservoir für das Virus“, um weitere, möglicherweise gefährliche Varianten herauszubilden, führt Wagner aus.

Raunig will auch hier wieder jeden Druck von Kindern nehmen. Daher: keine Propaganda fürs Impfen an den Schulen, keine Impfbusse, keine Schulsprecher, die von Klasse zu Klasse gehen.

Randow will antworten, kommt aber nicht gleich dazu.

Reiterer bittet jetzt um ein „versöhnliches Ende“.

Netzer einigt sich zumindest mit Rendi-Wagner. Das Impfen an den Schulen müsse die Gesundheitsbehörde organisieren, die Schulen könnten aber Räume zur Verfügung stellen.

Kritik an Abwesenheit des Ministers

Randow zeigt sich unversöhnlich, bleibt beim Vorwurf, dass Verantwortung abgeschoben werde. Und er thematisiert, dass Bildungsminister Heinz Faßmann nicht im Studio sitzt. Randow: „Während in Österreich gerade Schülerinnen und Schüler teilweise in der ungeschützten Klasse ausharren, die kontrollierte Durchseuchung stattfindet, ist der zuständige Minister auf einem anderen Kontinent. Wir waren alle total entsetzt, dass er sich auch da wieder aus der Verantwortung nimmt. Es ist einfach Zeit dafür.“

Jetzt muss Netzer „aber auch noch etwas sagen“. Er finde das jetzt „unglaublich“. Faßmann sei schließlich auch Wissenschaftsminister. Der Bereich Forschung sei sehr wichtig, auch in der Pandemie, es gelte, sich mehr zu vernetzen. Der Minister weile bei einem „wichtigen Kongress in den USA“ und das sei „lang ausgemacht“ gewesen.

"Jetzt ein bissl empfindlich"

"Und ein bissl empfindlich bin ich jetzt auch noch“, sagt Netzer in Richtung Randow und holt zum abschließenden Angriff aus. „Dass Sie mir gestern über die Kronen Zeitung ausgerichtet haben: Da kommt nur so ein Beamter … Wenn Ihnen ein Generalsekretär eines Ministeriums zu wenig ist … Sie sind mir nicht zu wenig. Ich hab mich gefreut auf diese Diskussion. Sie sind weder Bundesschulssprecher noch Landesschulsprecher, mir ist die Einzelmeinung wichtig. Ich nehme diese Arroganz mit, dass Ihnen der Generalsekretär zu wenig ist. Mir ist jeder einzelne Schulsprecher ein wichtiger Diskussionspartner.“

Ein Diskussionspartner, der am Ende noch als arrogant abgekanzelt wird und nicht mehr antworten kann.

Denn Reiterer muss jetzt einen Schlussstrich ziehen und sagt: „Zuerst war’s versöhnlich, jetzt wieder ein bissl unversöhnlich , aber wir sind am Ende der Sendung angelangt.“

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