Das diesjährige Filmfestival im Cannes, vom üblichen Mai in den heurigen Juli verschoben, verlief zwischen Euphorie und Angst. Die anfängliche Freude, endlich wieder mit anderen Menschen zusammenzutreffen und gemeinsam ins Kino gehen zu können, wich ziemlich schnell einer großen Unbehaglichkeit. Daran war vor allem die Festivalleitung schuld, deren lässiger Umgang mit der Pandemie für Irritationen sorgte.
Besonders im Vergleich zu Venedig, das vergangenen Herbst sein Festival unter strengen Sicherheitsbedingungen erfolgreich durchgeführt hatte, schnitt Cannes denkbar schlecht ab.
In den riesigen Kinosälen, vollgefüllt mit Besuchern, die keinerlei 3-G-Regeln nachweisen mussten und die Maskenpflicht nicht immer allzu Ernst nahmen, kam es zu Streitereien unter Journalisten. Nachdem es das Saalpersonal vernachlässigte, Säumige an ihre Maskenpflicht zu erinnern, mussten besorgte Besucher selbst den Maskensheriff spielen. Es spielten sich unerfreuliche Szenen ab, in denen Leute ihre Plätze wechselten, weil ihre Nachbarn den Mundschutz verweigerten.
Cannes-Chef Thierry Fremaux war anzumerken, dass er sein Festival durchpeitschen wollte, koste es, was es wolle. So hatte man andauernd das leise Gefühl, ungewollt an einer riesigen Corona-Party teilzunehmen.
Natürlich war es dann auch der Corona-Virus, der einem der größten Stars der französischen Filmindustrie den Cannes-Besuch verunmöglichte. Léa Seydoux wurde positiv getestet und musste unter lautem Schlagzeilengetrommel zu Hause in Paris bleiben. Dabei hätte Seydoux heuer in Cannes einen wahren Großauftritt gehabt: Gemeinsam mit Tilda Swinton zählte sie zu jenen Schauspielerinnen, die im heurigen Filmprogramm am öftesten zu sehen waren.
Gleich in vier Filmen – darunter in Wes Andersons „The French Dispatch“ – hatte Seydoux, Bondgirl und Palmengewinnerin für ihr Schauspiel in „Blau ist eine warme Farbe“, prominente Auftritte; den größten aber zuletzt in Bruno Dumonts hinterfotziger TV-Satire „France“. Sie spielt eine Sensationsreporterin namens France, deren Berühmtheitsgrad dermaßen hoch ist, dass sie ununterbrochen Selfies mit Fans machen muss. France bereist Krisengebiete und positioniert sich effektvoll in Flüchtlingsbooten. Am meisten aber interessiert sie sich für Mode und Einschaltquoten.
Der größte Lacher kommt gleich zu Beginn, als Emmanuel Macron bei einer Pressekonferenz auftritt. Dumont schneidet die Szene so, dass es aussieht, als würde er mit Seydoux in ihrer Rolle als kritischer Journalistin flirten und sich gleichzeitig blamieren.
Der Kinosaal röhrte vor Begeisterung.
Nicht ganz so lustig geht es weiter. Dumont liefert einen abgefeimten Genre-Mix aus Politsatire, Medienkritik und Melodram, gedreht in flachen Bildern, die an schleißiges Fernsehmaterial erinnern. Dann gerät die Reporterin in eine moralische Krise. Augenwasser rinnt ihr über die Wangen, auch wenn die Kamera längst abgeschaltet ist. Mit schwarzem Humor – oder ist es Zynismus? – kommentiert Bruno Dumont eine Mediengesellschaft, in der es egal zu sein scheint, ob man echte Tränen weint oder nicht.
Nach Léa Seydoux ist Tilda Swinton eine der meist beschäftigten Schauspielerinnen in Cannes. Zuletzt sah man sie in dem kontemplativen, extrem langgedehnten Film „Memoria“ des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul. Darin spielt sie eine Frau in Kolumbien auf der Suche nach einem lauten Geräusch, das nur sie und wir zu hören scheinen. Der dumpfe Ton klingt wie eine Vorwarnung – und wer im Kino kurz einmal eingenickt ist, findet wieder zurück in einen stillen Film, der einem auch beim Schlafen zusieht.
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