Kulturstreaming: Jede Bühne ist jetzt ein Medienunternehmen
Die Erinnerung daran ist ebenso schon vom eigenartigen Dunkel dieses Jahres verschluckt wie das Balkonklatschen für diejenigen, die den Laden während der ersten Welle am Laufen hielten: Im März, April, Mai hatten wir plötzlich die Kulturstars im Wohnzimmer sitzen. Mit recht improvisierten Zoom-Lesungen und Videokonzerten halfen manche der größten Künstler über die ersten Corona-Wochen hinweg. Das war ungewohnt – und auf amateurhafte Art wohltuend.
Dieser erste Schwung an gutem Willen, Intimität und Zusammenhalt ist nun, in der zweiten Welle, wegprofessionalisiert worden. So, wie sich Pädagogen fürs Home Schooling und Buchläden für die Lesestoffauslieferung gerüstet haben, haben sich die Bühnen und Museen im neuen Normalen breitgemacht: Jede Bühne ist nun ein Medienunternehmen, wie es Variety zusammenfasste.
Immer professionellere Streaming-Produktionen werden über die gleichen Kanäle verteilt, die schon Facebook, der „Tatort“ oder virale Skatervideos verstopfen.
Viele dieser neuen Medienanbieter aus dem Kulturbereich sind durchaus groß, und sie gehen mit wuchtigem Angebot ins Rennen. Und mit dem Anspruch, auf höchstem Niveau in einem nicht ureigentlichen Markt mitspielen zu können. Die Wiener Staatsoper hegt Übertragungspläne, am Sonntag gibt es Alfred Dorfers „Figaro“-Inszenierung aus dem Theater an der Wien im ORF.
Deren Budgets würde sich mancher reguläre Medienanbieter wünschen. Und sie sind nicht die einzigen Anbieter, die – für Publikum geschlossen – neue Wege zu den Menschen suchen. Museen podcasten und lassen Kameras durch Ausstellungen schweben, Theater wird für zuhause gespielt. Trotzdem: Man muss die Kulturinstitutionen nicht beneiden. Denn die Medienwelt ist an und für sich schon im finanziellen Umbruch (Spoiler: Das Internet ist schuld). Wer hofft, hier verlorene finanzielle Meter wieder gutzumachen, wird ein beinhartes Umfeld vorfinden. Aber auch inhaltlich wagen sich hoch spezialisierte Unternehmen in einem Markt vor, der nicht auf sie wartet, sondern erobert werden will.
Die allseits gestreamte Großkultur rittert nämlich um dieselbe Aufmerksamkeit wie ungleich stomlinienförmigere Kontrahenten: Wo bucht sich eine abgefilmte Theateraufführung, eine Vier-Kamera-Opernübertragung in Relation zu jener Milliarde Dollar ein, die Netflix alleine in Großbritannien in Produktionen steckt?
Bei aller Professionalität im eigentlichen Kulturschaffen droht manches Streamingvorhaben den Nachgeschmack einer eher mittelmäßigen Medienproduktion zu haben. Das ist im überhitzten Medienmarkt Gift.
Stolz und Vorurteil
Die Kultur ist hier ordentlich in der Zwickmühle: Hochgerüstete Apparate laufen seit Monaten im Leerlauf oder im ersten Gang (mit einer kurzen Achterbahnfahrt zu Saisonbeginn); nach deren Produkten sehnen sich viele Menschen; und sich ins auferlegte Schweigen zu fügen, ist keine der ganz großen Stärken der Branche.
Die Optionen aber sind stark limitiert. Auf den sozialen Medien schafft es die sogenannte Hochkultur kaum je aus ihrer Blase heraus. Also: Streaming.
„Pivoting“ nennt man im Silicon Valley jenen Moment, in dem Start-Ups von einem ursprünglichen Plan auf ein ganz neues Geschäftsmodell umschwenken. Ein riskanter, entscheidender Moment. Auch die Kultur macht wegen Corona einen derartigen Dreh. Toi, toi, toi.
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