Graphic Novel: Der Tag, als Serge Gainsbourg starb
Der französische Zeichner und Regisseur Joann Sfar thematisiert in zwei Graphic Novels sein Leben als Jude in Frankreich und will ein Buch des antisemitischen Autors Céline verfilmen
3. Oktober 1980: Vor der Synagoge in der Rue Copernic in Paris detoniert eine Bombe, es gibt vier Tote und 46 Verletzte. Verantwortlich ist die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“.
8. Mai 1990: Neonazis schänden den jüdischen Friedhof in Carpentras. 34 Gräber werden beschädigt, aus einem Grab wird der Leichnam eines Mannes gestohlen.
19. März 2012: In der jüdischen Schule Ozar-Hatorah in Toulouse ermordet Mohamed Merah einen Lehrer und drei Kinder.
23. März 2018: Die Holocaust-Überlebende Mireille Knoll wird von zwei Männern, darunter einem Nachbarn, mit elf Messerstichen ermordet.
Paketbomben, Geiselnahmen, Anschläge auf Schulen, Friedhofsschändungen, Morde. Die Chronologie antisemitischer Vorfälle in Frankreich seit Joann Sfars Geburt 1971 füllen auch als klein gedruckte Mehrzeiler ganze zwei A4- Seiten. Man habe ihm „Überempfindlichkeit bei antijüdischer Diskriminierung“ vorgeworfen, schreibt Joann Sfar dazu in seiner vor wenigen Monaten erschienenen Graphic Novel „Die Synagoge“. Man möge unbesorgt sein, so der Autor und Zeichner, „ich habe nie erwartet, dass meine Bücher zu irgendwas gut sind. Die Juden wissen, dass die Atempause nach der Schoah nie von Dauer hätte sein können.“
In seinem autobiografischen Comic berichtet Sfar von dem jungen Mann, der er einst war.
Er wirft einen Blick zurück auf die eigene Jugend und die jüngere Vergangenheit Frankreichs. Als Mitglied der jüdischen Gemeinde in Nizza organisierte Joann Sfar in den 1980er-Jahren Jahren, nach einer Reihe von Bombenanschlägen auf Synagogen, einen Wachschutz mit. Es war die Zeit, in der der Front National offen antisemitisch auftrat und noch nicht vorgab, „eine Partei wie alle anderen“ zu sein.
Sfar erzählt aber auch von seiner Familie und seinem dominanten Vater, der als Anwalt einige Neonazis ins Gefängnis gebracht hatte. „Er wurde wegen seines politischen Engagements bedroht und versteckte Gauner im Kofferraum seines Alfa Romeo bis zum Gericht. Ich sah ständig, wie er sich prügelte. Das faszinierte und traumatisierte mich gleichermaßen.“
Sfar, und das ist seine große Kunst, erzählt von all dem Schrecken mit Humor und Ironie. Denn als Held überzeugte der junge Sfar nur mittelmäßig. Viele seiner hier geschilderten Begegnungen mit Antisemiten sind eher absurd. Etwa die, als er sich um ein Haar mit einem Nazi-Skinhead angefreundet hätte.
Zeichnen, um zu erzählen
Männlichkeitsbegriffe und die Vaterfigur stehen im Mittelpunkt von „Die Synagoge“. Im nun erschienenen Nachfolgeband „Der Götzendiener“ geht es um die abwesende Mutter, die starb, als Sfar noch ein Kleinkind war.
Inwiefern diese Abwesenheit seinen Werdegang als Künstler beeinflusst hat und welche Rolle das Judentum dabei spielte, wird hier zu einer klugen, ironischen Auseinandersetzung: „Juden haben keine Kirchenmalerei“, heißt es darin, aber sie „haben das ganze Mittelalter damit verbracht, zu zeichnen. Aber nicht, weil sie Künstler werden wollten, sondern um zu erzählen.“
In der Auseinandersetzung mit Kunst und Judentum spielt auch ein gewisser Serge Gainsbourg eine Rolle. Der legendäre Chansonnier, Filmschauspieler, Komponist und Schriftsteller, 1928 als Lucien Ginsburg, Sohn ukrainisch-jüdischer Immigranten in Paris geboren, war eine Ikone in Frankreich. Sein Tod am 2. März 1991 versetzte das Land in einen Schockzustand. Für viele Franzosen heute noch eine Art Kennedy-Moment: „Ich weiß noch, wo ich war, als Gainsbourg starb.“
In Joann Sfars Buch nimmt dieser Moment gleich das erste Bild ein. Vielleicht, weil Gainsbourg ihm auch ein Vorbild darin war, dem Schrecken mit Witz zu begegnen – schließlich verarbeitete Gainsbourg die Erfahrung, als Jugendlicher den Judenstern tragen zu müssen, im Song „Yellow Star“ und er pflegte ironisch zu sagen: „Ich bin unter einem guten gelben Stern geboren“.
„Gainsbourg – Der Mann, der die Frauen liebte“ hieß schließlich der Film, mit dem Sfar 2010 sein Spielfilmdebüt als Regisseur und Drehbuchautor gab – die Dreharbeiten zu dem Film sind ebenfalls in der Graphic Novel geschildert. Sfar wurde für seinen Film mit einem César, dem französischen Oscar, ausgezeichnet. Der zweite folgte 2012 für den Animationsfilm „Die Katze des Rabbiners“.
Und nun legt Sfar nach. Er will wieder einen Film drehen. Ausgerechnet nach einem Buch eines notorischen Antisemiten. Mit „Reise ans Ende der Nacht“ schrieb Louis-Ferdinand Céline (eigentlich Louis-Ferdinand Destouches) 1932 einen Roman, der angesichts seiner Schönheit die antisemitischen Pamphlete seines Urhebers vergessen machen möchte. Es geht darin um den mittellosen Medizinstudenten Bardamu, der als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg zieht und später als Arzt in Afrika, Amerika und Frankreich lebt. Céline beschreibt, anhand der Einsamkeit eines Einzelnen, die Einsamkeit der Menschheit. Der „erbarmungsloseste Roman des 20. Jahrhunderts“ wird „Reise ans Ende der Nacht“ genannt. Er ist in vielen Schulen Frankreichs Pflichtlektüre.
Regisseure wie Filmpionier Abel Gance („Napoleon“) oder Michel Audiard haben sich in der Vergangenheit erfolglos an dem Stoff versucht. Und was hat Sfar nun vor? Vorerst bestätigt er nur, dass er sich die Rechte für eine Verfilmung gesichert hat und „daran arbeite“. Produziert werden soll der Film von Alain Attal, mit dem Drehbuchautor Thomas Bidegain („Ein Prophet“) ist ein weiterer César-Preisträger beteiligt.