Gerhard Roth: „Der letzte Gedanke war: Sterben ist leicht“
„Wenn es kalt und nebelig wird, ist Venedig am schönsten.“ Schreibt Gerhard Roth. „Dann bleiben die Touristen, die nur einmal da gewesen sein wollen, zu Hause, und die Reisenden sind mit den Einheimischen unter sich.“
In den letzten Jahren hat der Autor, 1942 in Graz geboren, zwei Romane veröffentlicht, die in Venedig spielen: „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“ sowie „Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier“. Und im Frühjahr wird „Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe“ folgen. „Das ist ein Shakespeare-Zitat aus ,Verlorene Liebesmühe‘“, so Roth. „Und dann ist das Venedig-Triptychon abgeschlossen.“
Quasi als Ergänzung erscheint dieser Tage im Brandstätter Verlag ein prächtiger Band mit hunderten Fotos, die Roth auf seinen gut 15 Venedig-Reisen aufgenommen hat. „Er dokumentiert meine Spurensuche in der Stadt, kleinere wie größere Erlebnisse und meine Gedanken.“
Zum ersten Mal war Roth Mitte der 50er-Jahre in Venedig. „Gleich nach der Ankunft ist mein Vater mit uns in den Markusdom gegangen. Er kannte ihn, denn er hatte in Bologna Medizin studiert. Ich war überwältigt von den goldenen Mosaiken.“ Erst zwei Jahrzehnte später kam Roth wieder in die Lagune – nun mit seiner zweiten Frau, Senta. Die beiden hatten sich am gemeinsamen Arbeitsplatz im Grazer Rechenzentrum kennengelernt. „Ich wollte meiner Kindheit nachgehen. Und ich war wieder fasziniert. Venedig inspiriert mich. Ich begann, die Stadt und die Inseln zu erforschen, San Erasmo, Torcello oder San Lazzaro degli Armeni und so weiter …“
Seit 2002 hätten die Venedig-Reisen einen „professionellen Charakter“ bekommen, resümiert der Journalist Martin Behr im Band „Venedig – Ein Spiegelbild der Menschheit“ über die „Feldforschung“ des Autors.
Mit einer „fast schon ritualisierten Regelmäßigkeit“, so Behr, besuche Roth die Cafés, Kirchen, Museen, Plätze und Palazzi, die Inseln, die Ruinen eines ehemaligen Spitals auf dem Lido oder den Fischmarkt: „Getrieben von der Neugierde, die Stadt und ihre Grandezza in allen Facetten kennenlernen zu können.“
Das Unbewusste ...
Sehr oft sei er, sagt Roth, im ehemaligen Irrenhaus von San Servolo gewesen. „Ich gehe überall, wo ich hinkomme, in die Irrenhäuser. Was mich an ihnen interessiert, ist die Begegnung mit Menschen, deren Leben vom Unbewussten dominiert wird. Was macht das Unbewusste aus den Menschen?“
Das Thema Wahnsinn durchzieht sein Werk seit Anbeginn. „Mein jüngerer Bruder hatte ein autistisches Verhalten“, erzählt Roth. „Er lag bei der Schachstaatsmeisterschaft in Innsbruck in Führung, fand aber eines Tages im Waschbecken des Hotelzimmers ein schwarzes Haar – und fuhr sofort heim. Oder: Er wollte keine Türklinken angreifen und kannte alle Mahler-Symphonien auswendig, jede einzelne Note.“
Bekanntlich schwingt bei Roth immer der Tod mit – und daher in diesem Falle auch der „Tod in Venedig“, der Roman von Thomas Mann über den Schriftsteller Gustav von Aschenbach: „Am Ende stirbt er als lächerlicher Greis mit gefärbten Haaren und geschminktem Gesicht während einer Choleraepidemie, infiziert von überreifen Erdbeeren“, fasst Roth zusammen. Er selbst wäre in Venedig beinahe gestorben:
„Nach einer Infektion verlor ich im Badezimmer der Wohnung – in der Nähe der Rialtobrücke – das Bewusstsein, ein Rettungsboot brachte mich über den Canal Grande zum Krankenhaus auf den Fondamente Nove. Unterwegs öffnete ich die Augen und erblickte das ,Casinò di Venezia‘.“ Just dort war 1883 Richard Wagner gestorben. „Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Ospedale Santi Govanni e Paolo in einer winzigen, dunklen Kammer. Ein Rettungswagen brachte mich zwei Tage später nach Österreich in ein Krankenhaus, wo ich erfuhr, dass meine Lungen entzündet waren, und ich versuchte den Friedhof San Michele aus dem Kopf zu bekommen, dessen Ziegelmauern man – durch das Meer getrennt – gegenüber dem Ospedale sehen kann.“
... und das verlorene Bewusstsein
Roths Leben ist gekennzeichnet von Krankheiten und Verletzungen. „Ich hatte 15 oder 16 Mal einen Gips. Knöchelbruch, Kreuzbandriss, Armbruch. Als Kind bin ich mit dem Schaukelpferd in der Laube vom Gartentisch gefallen und hab’ mir den Ellbogen ausgerenkt. Ich hatte zwei schwere Gehirnerschütterungen. Aber ich war bei all den Verletzungen nüchtern. Betrunken ist mir nie was passiert“, so Roth. „Und mit 15 Jahren bekam ich als Fußballtormann einen Tritt in die rechte Niere. Seither ist sie vier Fingerbreit gesenkt.“
Bereits mit 21 Jahren hatte Roth einen Herzstillstand: „Ich ging ins Haus – und plötzlich kam das Schachbrettmuster des Bodens wie eine Zugbrücke auf mich zu. Ich verlor mein Bewusstsein. Und der letzte Gedanke war: Sterben ist leicht. Mein Vater hat mich gerettet. Er brachte mich mit dem Lift in die Wohnung im dritten Stock und gab mir eine Injektion. Das Fenster stand offen. Und das Erste, was ich nach dem Aufwachen hörte, war ein Motorengeräusch. Ein Auto hielt an, die Tür wurde zugeschlagen. Jemand sagte: ,Heute war ein schöner Tag. Wir sehen uns! Servus!‘ Das gab mir Kraft. Sogleich hatte ich den Wunsch, gesund zu werden.“
Über sein drittes Buch, „Der Wille zur Krankheit“ von 1973, sagt er: „Es war der Versuch, mir selbst auf die Spur zu kommen. Aber man kann sich nicht selbst erkennen, nur erahnen. Damals hatte ich auch Selbstmordgedanken, denen ich mich stellte. Vor allem der Frage: Sind meine Krankheiten kleine Suizide?“ Und im letzten Band des Zyklus „Orkus“ mit dem Titel „Reise zu den Toten“ (2011) heißt es: „Solange ich denken kann, zog mich das Unglück an – der Tod, der Selbstmord, das Verbrechen, der Hass, der Wahnsinn (...). Im Unglück sehe ich das eigentliche Leben.“
Das Schreiben war ihm immer die größte Hilfe: „Zuerst habe ich meine Krankheit akzeptiert – und kurz darauf wieder weitergearbeitet.“
Gegenüber dem Magazin profil sagte er 2019: „Die wirkliche Katastrophe trat nach einem offenen Schienbeinbruch und einer darauffolgenden Lungenembolie vor sieben Jahren ein. Wochenlang geisterte ich, als ich bereits wieder gehen konnte, ohne genug Luft zu bekommen, herum. Erst durch den Aufenthalt in der Intensivstation begriff ich, dass es um mein Leben gegangen war.“
Es folgten u. a. eine Magenoperation und ein Bandscheibenvorfall. Aber aufgeben gibt es nicht. Roth lebt mit seiner Frau in zwei alten Winzerhäusern in Kopreinigg. Nach wie vor liegt er am liebsten unter dem Nussbaum auf der Bank und schreibt in Hefte – mit billigen Kugelschreibern, wie sie im Lektorat des S. Fischer Verlags verwendet werden. „Mit ihnen kann ich auf einer Unterlage senkrecht schreiben. Und die Minen laufen nicht aus.“
Im Laufe seiner „venezianischen Feldforschung“ entstanden tausende Fotografien, die Gerhard Roth u. a. als Erinnerungsstützen für seine Romane dienten. Roth geht es nicht um Meisterschaft, viele Fotos sind dilettantisch, aber er bietet ein enormes Panoptikum. Herausgegeben von Daniela Bartens und Martin Behr, mit Texten von Gerhard Roth, gestaltet von Alexander Kada und Alexandra Riewe.
Gerhard Roth: „Venedig – Ein Spiegelbild der Menschheit“ Brandstätter Verlag. 240 Seiten. 50 Euro
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