"Gebrochen, aber trotzdem da"

Sarrazin
"Astragalus" von Albertine Sarrazin: Ein wildes Mädchen lässt sich zu ihrer großen Überraschung das Herz brechen.

Sie war eine nicht einmal 1,50 Meter große Pariserin, die ein dramatisches Leben führte, das viel zu früh endete. Die Rede ist nicht von Édith Piaf.

Albertine Sarrazin: Schulabbrecherin, Kleinkriminelle, Schriftstellerin. Stirbt, als sie keine 30 ist. Ihre Entdeckung verdankt sie Simone de Beauvoir. Die Erste, die an sie glaubte.
Geboren 1937 in Algier als Tochter einer 15-Jährigen, wächst Albertine Sarrazin bei einem Militärärztepaar in Frankreich auf. Lernt Geige, Latein, wird mit zehn vergewaltigt. Als Teenager landet sie in einer Besserungsanstalt. Lernt eine Institution nach der anderen und schließlich die Straße kennen. Ein Raubüberfall bringt sie ins Gefängnis. Mit 19 gelingt ihr die Flucht, keine zehn Jahre später ist sie tot. Im Gefängnis schreibt sie zwei Bücher, das dritte „Astragalus“, in Freiheit.

Gejagt

Was für eine Freiheit! Die Freiheit einer schwer verletzten Gejagten – den Sprung von der zehn Meter hohen Gefängnismauer bezahlt sie mit dem Bruch des Astragalus, des Sprungbeins. Es kommt eine schlimmere Verletzung: Die zierlich-zähe Ausbrecherin, die sich als Räuberin und Strichmädchen durchschlug, wird Julien verfallen: Julien liest die Verletze auf. Ihr genügt ein Blick, auch er ist ein Exhäftling; ein Seelenverwandter. Auf seinem Motorrad rasen sie durch die eisige Nacht. Er bringt sie von einem Versteck zum anderen, bezahlt ihr die Pflege des schweren Beinbruchs. Doch Julien wird Anne, so heißt die Erzählerin in Sarrazins semi-autobiografischem Roman, das Herz brechen. Ihr, die doch so abgebrüht ist, die es nicht leiden kann, wenn man sie mit „Liebe vollstopfen“ will.

Im Versteck wartet sie auf Genesung, auf den Liebsten, auf die endgültige Freiheit. Kaum gesund, macht sich die Delinquentin wieder auf die Jagd. Geht auf den Strich, stiehlt, weiß nicht, was sie mit sich anfangen soll.
Ein trotziges Kind, dem die verdammte Liebe dazwischen kommt. Eine Poetin, die vom Gefängnis, von Liebe, von Verlassenheit schreibt. Mit Whisky und Pastis. „Ich schnuppere Paris, verkrieche mich in seinem Herzen. Ich bin wieder da, geschlagen, gebrochen, aber trotzdem da. (...) Paris, ich bin wieder da, ein Trümmerhaufen, aber ich fange wieder an zu leben und zu kämpfen.“

Eine gehetzte Seele

"Gebrochen, aber trotzdem da"
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Der Münchner Hanser Verlag hat diesen Bericht einer gehetzten Seele nun wieder aufgelegt. Versehen mit einem Nachwort von Patti Smith, die das Buch 1968 in einem Ramschladen in Greenwich Village entdeckte. Für die hungrige 22-Jährige, die nur mehr ein paar Cent in der Tasche hatte, war die Entdeckung der Schriftstellerin Albertine Sarrazin wie die einer „Schwester“. Das Buch kostete 99 Cent, so viel wie ein Käsetoast. Smith, nach der Trennung von Robert Mapplethorpe auf sich allein gestellt, entschied richtig: „Ich vergötterte Albertine. Ihre leuchtenden Augen haben mich durch die Dunkelheit meiner Jugend geführt. Sie hat mich durch die Nächte hundertmaligen Schlafs begleitet.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Info: Albertine Sarrazin: „Astragalus“ Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Hanser Berlin. 232 Seiten. 20,50 Euro.

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