Friederike Mayröcker starb mit 96 Jahren in Wien
An ihrem 96. Geburtstag, den sie am 20. Dezember 2020 feierte, hätte sich Friederike Mayröcker am liebsten versteckt: Sie schreibe zwar weiterhin, das Älterwerden aber falle ihr schwer. Nun ist die große Dame der österreichischen Literatur, „Fritzi“ gerufen und vielfach ausgezeichnet, gestorben. Sie wäre gerne 100 geworden, heißt es.
„Ich lebe nur in Sprache“, sagte sie. Und sie saugte alle Einflüsse in sich auf, um sie in Literatur, in Neologismen, in zarte Gedichte, in Prosa zu verwandeln. Aber der Tod war allgegenwärtig – dominant seit jenem ihres Lebensmenschen Ernst Jandl, ihrem „Hand- und Herzgefährten“, im Juni 2000. „Ich kann es nicht begreifen, dass man abtreten muss. Es ist einfach furchtbar“, sagte sie 2019 im Interview mit dem Falter. Und davor im Gespräch mit dem Standard: „Ich schreibe um mein Leben. Es wird mir aber nichts nützen. Er wird mich holen, so oder so."
Verhasster Brotberuf
Mayröcker, am 20. Dezember 1924 in Wien als Tochter eines Lehrers und einer Modistin geboren, begann bereits als kränkliche 15-Jährige, emotionale Texte zu schreiben. In der avantgardistischen Zeitschrift Plan von Otto Basil veröffentlichte sie 1946, unmittelbar nach dem Ende des NS-Regimes, erste Gedichte. Im selben Jahr begann sie als Englischlehrerin an Wiener Hauptschulen zu unterrichten. „Ich war eine schlechte Pädagogin. Ich wollte nie diesen Lehrberuf ausüben, aber meine Eltern haben gemeint, dass das ein für mich geeigneter Brotberuf wäre“, erzählte Mayröcker. Erst 1969 konnte sie sich karenzieren lassen – und ganz dem Schreiben widmen.
1951 war Mayröcker zu einem Kreis junger Autoren um Hans Weigel gestoßen, dem u. a. Ingeborg Bachmann und Hertha Kräftner angehörten. Sie lernte Andreas Okopenko kennen, kam in Kontakt mit der Wiener Gruppe rund um Gerhard Rühm und H. C. Artmann (am 12. Juni wäre sein 100. Geburtstag).
Und 1954 machte sie Bekanntschaft mit Ernst Jandl, ebenfalls Lehrer. Sie verfolgten ähnliche Ziele, beide ließen sich scheiden – und zogen zusammen. Dennoch waren ihre Arbeits- beziehungsweise Herangehensweisen äußerst unterschiedlich.
1966 brachte Rowohlt die Gedichtauswahl „Tod durch Musen“ heraus: „Da habe ich gedacht: Vielleicht ist das wirklich mein Weg“, sagte die Dichterin rückblickend. Zwischen 1967 und 1971 verfasste sie eine Reihe von Hörspielen, vier davon mit Jandl, darunter „Fünf Mann Menschen“, das 1968 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde.
Mayröcker wandte sich vom „experimentellen Purismus“ ab, um später eine „experimentelle Romanform“ zu entwickeln; sie schrieb keine Autobiografie, aber alles, was sie schrieb, war irgendwie authentisch Mayröcker. Es ging immer um „Das Herzzerreißende der Dinge“ (1985), um Verluste, Angst und Abschiede, um das Schweigen und die Natur.
Geschüttelter Liebling
Es entstanden „magische Blätter“ mit eigenwilliger Orthografie wie Syntax, es entstanden auch Kinderbücher (darunter „Sinclair Sofokles der Baby-Saurier“), die sie bisweilen mit eigenen Zeichnungen illustrierte. Und es entstanden auch etliche Bücher, die sich mit Jandl und dessen Tod auseinandersetzen, darunter ein „Requiem“ sowie „Und ich schüttelte einen Liebling“.
Im Sommer 2020 veröffentlichte sie bei Suhrkamp das Buch „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete.“ Aus diesem „Proem“ las sie im August 2020 beim Literaturfestival „O-Töne“ im Wiener Museumsquartier. Sie meinte damals, dass dieses Buch, in der Folge für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, ihr letztes Buch sei. Sie sollte recht behalten.
Legendär geworden war Mayröcker, die großen Einfluss auf die Gegenwartsliteratur ausgeübt hat, wenngleich sie nur wenig gelesen wurde, aber schon Jahrzehnte zuvor. Eben aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit Ernst Jandl, der einen Stock höher in der Zentagasse lebte.
Ihre eigene Wohnung war eine „Zettelhöhle“. Denn sie sammelte alles, was sie animierte und inspirierte: Papiere und Notizen häuften sich in Waschkörben und Schubladen, hinzu kamen Bücherstapel sonder Zahl. Hier konnte Mayröcker zu klassischer Musik und beflügelt vom „heiligen Geist des Schreibens“ in einen Schreibrausch geraten.
Zum Schluss hin dürfte auch ihr das Chaos zu groß geworden sein: Sie zog in Jandls Wohnung. Und 2019 überließ sie all das Material der „Zettelhöhle“ der Österreichischen Nationalbibliothek. „Es ist das größte archivarische Projekt meines Lebens“, sagt Bernhard Fetz, der Leiter des Literaturarchivs. „Es ist ein unglaublicher Fundus!“ Allein die Bestandsaufnahme wird noch Monate dauern. Und Mayröcker hätte noch so viel zu berichten gehabt. 2009 notierte sie: „ich / habe ja erst angefangen zu schauen zu sprechen zu schreiben zu weinen“
Mayröckers wichtigste Werke
Zu ihren bekanntesten Werken zählen etwa der Gedichtband "Tod durch Musen" (1966) oder die Prosa-Stücke "Die Abschiede" (1980), "brütt oder Die seufzenden Gärten (1998), "Requiem für Ernst Jandl" (2001) oder "Und ich schüttelte einen Liebling" (2005). 2013 bis 2016 erschien die Trilogie "études", "Cahier" und "fleurs". Der letzte als Lyrik ausgewiesene Band erschien 2012 mit "Von den Umarmungen", die zuletzt erschienenen Werke betitelte der Suhrkamp-Verlag, bei dem Mayröckers Werk seit 1979 erschien, selbst als "prosaische Gedichte und lyrische Prosastücke".
Erste Reaktionen auf Mayröckers Tod
"Die Grande Dame der österreichischen Literatur ist nicht mehr. Heute hat Friederike Mayröcker ihren Stift für immer niedergelegt", reagierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen auf die Todesmeldung der "wohl wichtigsten österreichischen Autorin". "Die unaufdringliche Eleganz ihrer Texte hat uns reich beschenkt", so das Staatsoberhaupt.
Gegenüber der APA schrieb Mayröckers Verlagskollege bei Suhrkamp, der Grazer Autor Clemens Setz, auf Anfrage: "Friederike Mayröcker war die größte Dichterin unserer Sprache. Jeder Mensch findet in ihrem Werk seinen geborgenen Winkel, seinen Platz zum Ausruhen, seinen Lobpreis. Meine Trauer ist sehr groß. Zumindest habe ich mich ein Mal im Leben nützlich gemacht und für Friederike Mayröcker einen Snoopy gezeichnet, denn sie liebte diesen Hund mit der Schreibmaschine."
ORF ändert sein Programm
Im ORF widmet man Mayröcker am kommenden "kulturMontag" (7. Juni 2021, 22.30 Uhr, ORF 2) einen Nachruf. Ergänzend dazu steht die von Katja Gasser gestaltete Dokumentation "Wilder, nicht milder - Friederike Mayröcker im Portrait" (23.15 Uhr) auf dem Programm. Ö1 wiederholt am morgigen Samstag um 14.00 Uhr das Ö1-"Hörspiel" mit dem Titel "oder 1 Schumannwahnsinn". Die Autorin hat den Text selbst eingesprochen, Regie führte Klaus Schöning. In "Nachtbilder - Poesie und Musik" (22.05 Uhr) liest die Dichterin aus ihrem Werk "fleurs". Am Sonntag ist in den "Tonspuren" (20.15 Uhr) "Fritzi und ihre Fans", eine Hommage an Friederike Mayröcker, zu hören. Weitere Programmänderungen in ORF III sind geplant.
Kommentare