Billie Eilish beim Frequency Festival: Masse und macht nix
Gerade hat man sich so wohl gefühlt in der Erinnerung!
Okay, nicht in der Erinnerung, man war ja nicht dabei. Aber immerhin war am ersten Frequency-Tag ja auch 50 Jahre Woodstock zu feiern.
Aber die wohlige, nun ja, Erinnerungseinbildung an freie Liebe und Revolution und bessere Gesellschaft und supergute Musik wurde einem sofort mit der Eiseskälte des gesellschaftlichen Zurückschnalzens ausgetrieben: Im VIP-Bereich in St. Pölten gibt es einen abgetrennten VIP-VIP-Stock, und als normaler VIP kommt man da nicht hinein!
Das ist wohl die neue Kälte, von der alle reden. Nichts also hat es genützt, dass wir damals gemeinsam von der Rockrevolution geträumt haben. Nun ja, vielleicht nicht Nichts: Auch die hundsordinären VIPS haben Zugang zum Klo mit Popoföhn und Wasserbrause.
Wer weiß, ob wir ohne Jimi Hendrix’s Nationalhymnenverzerrung jemals so weit gekommen wären?
Schon vor dem Start der ersten Band am VAZ hätte man jedenfalls ums Bankchiparmband, das jeder Festivalbesucher für den erleichterten Konsumationsexzess umgeschnallt und festgedrückt bekommt, gewettet, dass man in einem halben Jahrhundert nicht ganz so ehrfürchtig von St. Pölten 2019 reden wird wie von Woodstock 1969.
Es ist nicht mehr so, wie es früher war. Heute gibt es Klos für alle, Essen für alle, die Musik kommt im Hochglanzssound daher und wer Sex hat, macht daraus noch keine Jugendbewegung. Freie Liebe kann jeder.
Noch ohne Alkoholisierungseinfluss hat schon der erste Gang über das Gelände durchaus Tripcharakter: Zu Fastriesenrad und Airbrush-Tattoo-Stand und Mobilklo-Risikospiel gesellte sich heuer eine Trutzburg, ein Ungetüm mit Tanzbühne und Ritterburg-Optik-Planen. Das Zielpublikum „in die Pubertät gekommene Harry-Potter-Fans“ kann also nun im Disco-Hogwarts Party machen, wenn das Hauptmusikangebot jetzt vielleicht nicht so fährt.
Das ist heuer mehr breit gestreut als scharf geschossen, wird aber im Gesamtkontext gut funktionieren: Es geht von Partymusik über harte Töne und Hip-Hop bis hin zu Billie Eilish.
„Den kenn ich nicht“, sagte eine Besucherin auf dem Weg zum Gelände.
Er ist bitte eine Sie!
Und zwar die Sie. Billie Eilish wird derzeit als so etwas wie die letzte Rettung der Relevanz von Popmusik mit Likes ohne Ende versehen.
Es sind nach ihrem ersten Österreich-Auftritt viele, viele mehr davon fällig. In den, jetzt aus Festivalperspektive, frühen Mittagsstunden ab 18.25 Uhr lockte Eilish Besuchermassen heran wie sonst nur die besten, seit 45 Jahren eingeführten Althadern-Headliner.
Und sie zeigte denen und allen anderen, mit breitem Die-können-uns-alle-gernhaben-Grinsen, mit Gutlaune-Gehüpfe und Basketball-Outfit, dass der Pop nicht tot ist, ja nichteinmal schlecht riecht.
Eilish macht sensationelle Popmusik, die in Erinnerung ruft, warum die Teenagerjahre die gefühlt allerwichtigsten im Leben sind: So viele Fragen, so wenige Antworten. Die Kids sind in ihren Texten zu zugedröhnt, um Angst zu haben, sie sind verliebt und sarkastisch und altklug und selbst amüsiert über all dieses Drama, und deshalb tanzen sie, am besten zu elektronischer, hip-hop-informierter Musik.
Aber keine Sorgen, liebe Eltern, wenig später nur rief sie die Fans auf, doch ihr Handy wegzulegen und im Moment zu leben. Das hätte Papa nicht besser gekonnt!
Es passierte, was im besten Festival-Fall passiert: Das Publikum und ein hoch aktueller Star hatten in St. Pölten einen gemeinsamen Moment. Und nein, in 50 Jahren wird sich keiner mehr erinnern. Aber das macht nichts: „Ihr wart wundervoll“, rief Billie Eilish am Schluss, und ja, danke, du auch.
Es ist Musik, die auch eine Reaktion ist: Die Generation Woodstock giftet, während sie sich für ihre eigenen Errungenschaften gegenseitig auf die Schultern klopft, die Protestbewegungen von heute wütend nieder.
Was hat bitte Greta schon für den Umweltschutz getan?
Ach, Revolution
Das Gute an all dem: Die Popmusik täuscht keine Antworten auf die Fragen von heute mehr vor. Kein Wunder also, dass es hier bis Samstag zwischen Billie Eilish und neusiedlerseeseichter Tanz- und Ein-Hit-Wunder-Musik ein breites Spektrum an guter Unterhaltung ohne Übermaß an musik- oder gesellschaftsrevolutionärem Anspruch gibt. Twenty One Pilots, Macklemore, Capital Bra, Mavi Phoenix, The Offspring, das ist wie eine auf die Bühne gebrachte Playlist zum Thema „Musik als Soundtrack zum Instagram-Motiv suchen“.
Bei den Essensständen gibt es übrigens dann doch das bisschen Freiheitsversprechen, das man sucht: „Pfeif drauf, heute ist Ausnahmetag“, nennt sich, lose übersetzt, einer der dienstbereiten Foodtrucks. Ungesund Essen, das ist die wahre Revolution.
Gönn dir!
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