Franz Welser-Möst: "Die Krise zeigt den wahren Charakter"
Er hat einen der letzten Flieger genommen, um aus den USA, wo er Chef des Cleveland Orchestra ist, zurück nach Österreich zu reisen. Seit einigen Wochen sitzt der Dirigent Franz Welser-Möst nun in seinem Haus am Attersee und wartet auf das Ende der Ausgangsbeschränkungen. „Ich habe aber genug zu tun“, sagt er im KURIER-Interview. „Zum Beispiel mein Buch, das im Sommer erscheint, zu korrigieren. Das heißt bezeichnenderweise ,Aus der Stille‘.“ Dieser Titel war schon vor der Corona-Krise festgelegt.
KURIER: Orchester in aller Welt spielen nicht, Theater und Opernhäuser sind geschlossen, man hat keine Ahnung, wann sich das ändert. Ist das der Anfang vom Ende der klassischen Musik?
Franz Welser-Möst: Das glaube ich nicht. Ein Kollege von Ihnen, Jim Oestreich von der New York Times, hat nach der Finanzkrise 2008/’09 gesagt: Die klassische Musik stirbt nicht, aber das Business der klassischen Musik könnte sterben. Ich glaube, das stimmt auch heute. Große Kunst stirbt nicht.
Aber das Business ist gefährdet. Wie konkret?
Es werden einige Kulturinstitutionen, darunter Opernhäuser und Orchester, insolvent gehen. Aber nicht nur in den USA. In Amerika ist die Kunst ja nicht direkt vom Staat finanziert, sondern von Privatpersonen oder Organisationen, die ihre Sponsorgelder abschreiben können. Ich glaube, dass dieses System jetzt sogar einen Vorteil gegenüber dem europäischen hat.
Sind europäische Kulturinstitutionen etwa noch stärker gefährdet?
Ja. Weil Kunst und Kultur für die Politik nicht vorrangig ist. Das sieht man gerade wieder. Ich sage aber auch seit Jahren selbstkritisch: Wir müssen unsere Relevanz stärker beweisen. In Cleveland ist uns das gelungen. Auch Alexander Pereira, als er in Zürich war, oder Matthias Naske am Wiener Konzerthaus zeigen, wie relevant ihre Institution für die Stadt ist. Aber sonst ruhen sich zu viele auf den Lorbeeren aus.
Sie glauben also, dass nicht garantiert ist, dass Kulturinstitutionen von der öffentlichen Hand finanziell aufgefangen werden?
Keinesfalls. Das wäre auch schwer zu argumentieren, wenn zusätzlich viel Geld in die Kultur fließt, während es so vielen schlecht geht.
Sie hätten die Eröffnungspremiere der Salzburger Festspiele, des 100-Jahr-Jubiläums, dirigieren sollen: „Elektra“ von Richard Strauss. Dazu kommt es nun nicht, zumindest nicht wie geplant im Juli. Wird es gar nicht zur Aufführung kommen?
Das weiß ich nicht. Falls die Festspiele nicht stattfinden, ergibt das auch einen wirtschaftlichen Schaden von 200 Millionen Euro. Ich habe schon vor Jahren, als Kulturförderungen immer wieder kritisiert wurden, gesagt: Lassen wir einmal ein Jahr lang alles ausfallen, in Wien und in Salzburg, und schauen wir, was passiert. Wie wichtig die Kultur auch für die Wirtschaft ist. Das ist nun leider Realität geworden.
Sie sagen, Kunst müsse ihre Relevanz stärker beweisen. Was ist falsch gelaufen?
Wir haben uns viel zu sehr in die Spaßgesellschaft hineinbegeben. In der Plattenindustrie zum Beispiel hat man seit den 90er Jahren versucht, mit Methoden der Popmusik auch in der Klassik Geld zu verdienen. Das hat zu einem Ausverkauf der künstlerischen Seele geführt. Pop wird als Unterhaltung verkauft, aber das geht nicht mit klassischer Musik. Diese Krise jetzt muss auch zu einer Überprüfung der Prioritätenliste führen. Und sie zeigt den wahren Charakter.
Was ist charakterlos?
Zum Beispiel, dass an der New Yorker Metropolitan Opera als erstes das Orchester und der Chor gekündigt wurden. Damit schneidet man das Herz eines Opernhauses heraus. Oder dass ausgerechnet jetzt Agenten für ihre Sänger höhere Gagen für die kommende Spielzeit fordern. Ich habe jedes Verständnis für Existenzängste von Menschen, aber nicht dafür. Wir haben verlernt, was Freiheit bedeutet. Freiheit heißt auch, Verantwortung für mich und für andere zu übernehmen.
Zuletzt gingen freischaffende Sänger mit eine Initiative an die Öffentlichkeit, dass auch sie Teile der Gagen bekommen müssten, weil sie ja im Gegensatz zu fix angestellten Künstlern sonst gar nichts verdienen.
Diese Sänger haben nach Solidarität gerufen. Aber Solidarität mit wem? Für mich bedeutet der Begriff: Solidarität mit Schwächeren. Dafür habe ich große Sympathie. Aber es kann doch nicht sein, dass Leute im Spitzenbereich, die jedes Jahr sechsstellige Einkommen bekommen, in Krisenzeiten von den Opernhäusern Geld für sich selbst fordern. Sie hatten alle Freiheit, manche haben vielleicht in Saus und Braus gelebt – und jetzt, wenn es kritisch wird, soll der Staat einspringen? Das sagt einem doch der Hausverstand, dass man das einem Korrepetitor, der einen Bruchteil verdient, nicht erklären kann. Mit solchen Aktionen schädigt man das Image von allen Künstlern. Und die Kommentare aus dem weit rechten Eck über Staatskünstler kann ich fast schon hören.
Also der völlig falsche Zeitpunkt, um zu sagen: Ich will mehr Geld?
Absolut. Es braucht jetzt die Solidarität aller Künstler mit den Institutionen. Wollen wir alle, dass die Staatsoper weiterbesteht? Hoffentlich ja. Und wenn man dann die Wahl hat zwischen 70 Prozent Gage oder 0, dann kann ich auch nicht sagen: Ich will aber 120 Prozent.
Das Coronavirus ist, was die Verbreitungsgeschwindigkeit betrifft, auch ein Virus der Globalisierung. Was ist im Kulturbereich diesbezüglich falsch gelaufen?
Ein Mönch aus dem Waldviertel hat einmal gesagt: Geschwindigkeit ist nur an der Oberfläche möglich – und Tiefgang nur in der Langsamkeit. Natürlich sind da viele Fehler passiert. Die Seele der Kunst stand sehr oft nicht im Vordergrund.
Wenn nun das Geld knapp wird – was wird, was muss sich ändern?
Hoffentlich die Auswüchse im Regiebereich. Es ist nicht zu verantworten, dass eine Produktion zwei Millionen Euro kostet. Der Kunstkritiker Clement Greenberg hat einmal gesagt: Der Effekt wird zum Inhalt. Das ist zuletzt passiert. Wir müssen uns wieder auf die Substanz konzentrieren. Es werden auch einige Sänger wieder die Sicherheit eines Ensembles suchen – das ist für die Qualität bestimmt förderlich.
Sehen Sie die Krise für die Kultur so gesehen auch als Chance?
Auf alle Fälle. Und zwar durch Entschleunigung. Viele haben zuletzt gedacht, dass es das Bankkonto ist, was uns ausmacht. Jetzt sehen wir, dass es andere Dinge sind, die wir brauchen. Soziale Kontakte etwa. Und Liveerlebnisse. Das Herdenerlebnis ist durch Internet-Aktivitäten nicht zu ersetzen.
Nochmals zurück zu den Salzburger Festspielen: Ist es nicht eine bemerkenswerte Parallele, dass ausgerechnet jetzt, 100 Jahre nach der Gründung, wieder eine so heftige Krise dominiert?
Absolut. Aber auch das Cleveland Orchestra wurde 1918, während der spanischen Grippe, gegründet. Für Salzburg bietet dieser Einschnitt die Chance, in den kommenden Jahren noch weniger Kompromisse einzugehen.
Und wie empfinden Sie die Ruhe, die gerade herrscht?
Die ist ganz wichtig. Es gab auch zuletzt zu viele lärmende Aufführungen. Orchester sind immer lauter geworden, um sich gegen den Lärm der Welt, der nicht mehr zu ertragen war, durchzusetzen. Das wird sich hoffentlich ändern.
Glauben Sie, dass das Coronavirus Donald Trump das Präsidentenamt kosten kann?
Ich glaube ja. Es gibt in den USA nicht nur die Coronakrise, sondern auch eine Verfassungskrise, weil Trump Allmachtsfantasien hat. Er ist auch besessen davon, alles rasch wieder hochzufahren. Entscheidend vor den Wahlen ist aber nicht die Wall Street, sondern der Jobmarkt. Und da schaut es in den USA ganz schlecht aus.
Wie beurteilen Sie die Performance der österreichischen Regierung?
Sie hat couragiert und total pragmatisch agiert. Und Gott sei Dank unideologisch.
Karriere
Franz Welser-Möst, der im August seinen 60er feiert, wurde in Linz geboren, studierte Komposition und Violine, musste aber seine Pläne, Geiger zu werden, nach einem schweren Autounfall aufgeben.
Er leitete zahlreiche Orchester, ehe er Generalmusikdirektor des Opernhauses in Zürich wurde. Ab 2010 war er GMD der Wiener Staatsoper, die er 2014 nach Konflikten mit Direktor Meyer verließ. Ab Herbst 2020 kehrt er als Dirigent ans Haus zurück.
USA
Seit 2002 ist Welser-Möst gefeierter Chef des Cleveland Orchestra. Er ist auch einer der zentralen Dirigenten der Salzburger Festspiele.
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