Ja, und das fühlt sich auch merkwürdig an. Es ist mein erstes Non-Fiction-Buch und zugleich sehr intim.
Natürlich soll man einen Schriftsteller nie fragen, ob das alles „wahr“ ist, was er schreibt, aber ...
... das meiste ist autobiografisch und doch ist da natürlich ein gewisser Spielraum. Literatur ist immer Interpretation.
Ihr Vater hat Ihrer Familie immer vom Jahr 1943 erzählt, als er einer der Soldaten war, die in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee flohen. Der „Rückzug aus Russland“ hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt. Aber ganz so war es nicht. Tatsächlich marschierten italienische Faschisten in die Ukraine ein.
Ja. Er war Offizier in einem Heer, das mit den Nationalsozialisten verbündet war. Und dieses Heer war zum Erobern und Vertreiben dort. Es ging Hitler um die Expansion nach Osten. Mussolini machte mit. Ich möchte aber betonen, dass wir das in Italien mittlerweile gut verarbeitet haben. In Deutschland wird Italien ja immer als Land dargestellt, das seine faschistische Vergangenheit nicht aufgearbeitet hat. Das stimmt aber nicht. Wir lernen auch in der Schule von unserer Vergangenheit.
Zugleich sind faschistische Symbole in Italien mancherorts immer noch salonfähig.
Italien hat einen anderen Umgang mit der Vergangenheit als Deutschland. Ich behaupte nicht, dass das eine oder andere besser ist. Natürlich haben wir in Italien auch unsere Probleme. Deutschland hat seine Nazi-Vergangenheit gründlich aufgearbeitet, ich weiß nicht, wie das in Österreich ist.
Die Legende, Österreich sei Opfer gewesen, lebt.
Eine problematische Sichtweise. Aber zurück zu Italien. Es gab nicht nur Faschisten, sondern auch eine starke Widerstandsbewegung, die Partisanen, über die ich im Buch ebenfalls spreche. Die italienische Legende ist, dass der Partisanen-Widerstand größer war, als es tatsächlich der Fall war. Dieser Antifaschismus ist der Gründungsmythos Italiens. Und wie bei allen Mythen: Im Kern stimmt das, manches ist übertrieben. Es ist kompliziert, weil Geschichte eben kompliziert ist.
Apropos Mythos: Ein weiterer Mythos, der derzeit wieder sehr in Mode ist, ist jener vom bösen Westen und vom guten globalen Süden, dem angeblich auch Russland angehört. Interessante Sichtweise, wenn man Russlands Rolle in Geschichte bedenkt.
Absolut. Von der imperialistischen Vergangenheit bis zum heutigen Angriffskrieg gegen die Ukraine, worüber ich ja auch in meinem Buch schreibe. Die Ignoranz Westeuropas, diese Zusammenhänge zu sehen, ist außerordentlich. Russland ist und war Kolonisator.
Aber das jahrelange Unvermögen Westeuropas, das zu sehen und zu benennen, ist doch erstaunlich.
Absolut. Und wissen Sie, wer einer der wenigen war, der das aussprach? Milan Kundera. Er hat ein Buch darüber geschrieben, wie westeuropäische Autoren nicht auf osteuropäische hören, ihnen nicht glauben, welche Gefahr von Russland ausgeht.
Ja, und später wurde ihm dann unterstellt, ein Spitzel für die KP gewesen zu sein. Es gab wenige westeuropäische Intellektuelle, die vor der Gefahr, die vom totalitären Kommunismus ausging, warnten. Albert Camus wurde dafür in Frankreich lange Zeit von den Linken verunglimpft. Den Anti-Kommunisten war er wiederum zu links.
Westeuropa hat es viel zu lange verabsäumt, das zu thematisieren. Es ging immer nur um Amerika und den westlichen Kolonialismus. Natürlich ist die amerikanische Kapitalismus-Gläubigkeit zu kritisieren. Aber man muss auch sehen: Kapitalismus ohne Rechtsstaat ist, wie wir jetzt in Russland sehen, ein Desaster.
Viele westliche Künstler problematisieren nur die historische Rolle der USA.
Wer sagt, die USA seien ein imperialistisches Land, hat recht. Aber das ist eben nur die Hälfte der Wahrheit.
Derzeit kursiert eine Unterschriftenliste im Rahmen einer Kampagne eines sogenannten Palästina-Literaturfestivals. Autoren wie Sally Rooney oder Arundhati Roy haben unterschrieben und sich verpflichtet, israelische Kulturinstitutionen zu boykottieren, denn diese seien „mitschuldig an der Unterdrückung der Palästinenser“. Kennen Sie diese Liste?
Ja, aber ich habe sie nicht unterschrieben. Ich glaube, dass Israel unter der derzeitigen Regierung auf dem Weg ist, ein gewalttätiges Land zu werden. Aber ich glaube nicht an Boykotte kultureller Institutionen.
Was würde der 2018 verstorbene Schriftsteller Amos Oz, der sich sein Leben lang für eine Zwei-Staaten-Lösung eingesetzt hat, dazu sagen, dass Künstler jetzt Künstler boykottieren?
Oder David Großmann, der lebt ja noch. Ich kann David Großmann nicht boykottieren.
Warum lassen sich so viele Künstler auf Ideologien und Gemeinplätze ein?
Das müsse Sie die fragen, nicht mich. Ich halte es für meinen Job als Schriftstellerin, Gemeinplätze zu hinterfragen.
Eine große Aufgabe. Wir leben im Zeitalter der Gemeinplätze und der Ideologien.
Wissen Sie, wir leben in einer sehr gefährlichen Welt. Klimawandel, Kriege, gefährdete Demokratien. So viele Katastrophen lauern überall. Wir haben alle Angst. Wir sollten auch Angst haben. Wer jetzt keine Angst hat, kann die Zeit nicht lesen. Und es ist menschlich, diesen Ängsten mit schlichten Erklärungen, basierend auf Gemeinplätzen und Ideologien, zu begegnen. Ideologien sind eine Reaktion auf Angst. Weshalb Populisten, die schlichte Erklärungen anbieten, jetzt so viel Erfolg haben. Meine Aufgabe als Autorin ist es, diese aus der Angst geborenen Ideen zu hinterfragen. Aber nicht die Menschen, die an diese Ideen glauben, zu verurteilen.