Francesca Melandri hat ein paar unangenehme Fragen an ihren Vater
Am 12. Oktober 1960 hatte der notorische Choleriker Nikita Chruschtschow bei der UNO-Vollversammlung in New York einen legendären Wutanfall, bei dem er mit seinem Schuh herumfuchtelte.
Francesca Melandris Vater erzählte gern die Anekdote, dass er, italienischer Journalist in den USA, den Kreml-Chef zuvor besucht und ihm eine Heldengeschichte aus seiner Soldatenzeit aufgetischt habe.
Den Wutanfall gab’s, der Schuh war eine Fotomontage, Vaters Story zumindest halb erfunden. Sie handelte von den italienischen Gebirgsjägern, die in Russland eine übermächtige Armee mit einfachem Wolfsgeheul in die Flucht geschlagen hätten.
Francesca Melandris Vater, das schließt man aus ihrem neuen Buch „Kalte Füße“, lebte, wie viele Italiener, von Halbwahrheiten über den Krieg. Von erfundenen Helden-und Opfergeschichten, die zum sogenannten Gedächtnis einer Nation wurden. So wurde etwa der Partisanenkampf „nahezu unverzüglich“ in den Kanon der kollektiven Erinnerung aufgenommen, zwecks Wiederherstellung der nationalen Ehre, aber auch dafür, „dass die Italiener über die recht klägliche Anzahl derer hinwegsehen konnten, die sich in den zwanzig Jahren zuvor wirklich dem Faschismus widersetzt hatten.“
Was Vater Melandri hier für eine Rolle spielte? Nicht ganz die, die er vorgab.
Der Angriffskrieg
Auslöser, den Mythen, die der Vater gar in einem Buch verewigt hatte, auf den Grund zu gehen, ist der Angriffskrieg auf die Ukraine. Auch Melandris Vater war in Wahrheit in der Ukraine und nicht in Russland. Denn auch Mussolini sah, wie zuvor die Russen und die Deutschen, in der Ukraine vor allem ein rohstoffreiches Land. Nach dem Holodomor, dem russischen Massenmord an den Ukrainern 1932/33, folgte Hitlers Terror und wenig später gierte Italien nach ukrainischem Weizen. Bloß sprach man im Hause Melandri nie von der Ukraine. Dem russischen Narrativ folgend, war diese ja kein Land.
Russischer Imperialismus werde, schreibt Melandri, bis heute kleingeredet. Schuld sei auch eine Selbstbezogenheit Westeuropas, die die Geschehnisse in Osteuropa bis zur russischen Grenze nie als Baustein der europäischen Gesellschaft betrachtet habe. „Diese Selbstbezogenheit hat sich in der postkolonialen Kritik nahtlos fortgesetzt, allerdings ins Negative verkehrt: Als die Unterdrücker und Ausbeuter der indigenen Völker des gesamten Erdballs sind aus unserer Sicht immer nur wir aus dem Westen aufgetreten.“ Russland hingegen habe sich in diesem Narrativ einen Platz bei den Guten sichern können.
Francesca Melandri, 1962 in Rom geboren, schreibt meist über Zeitgeschichte. In „Eva schläft“ verarbeitete sie das Nachkriegsgeschehen in Südtirol, in „Alle, außer mir“ italienische Kolonialgeschichte. „Kalte Füße“ ist weniger Roman als seine Vorgänger, eher ein erzählendes Sachbuch über die Frage: Was ist Krieg? Die Autorin wendet sich in kurzen Kapiteln an den Vater, klopft dessen Berichte auf ihren Wahrheitsgehalt ab.
Abrechnung ist das keine, immer noch ist da eine liebevolle Vater-Tochter-Bindung. Und doch wird Familiengeschichte brüchig. Mehr noch: Melandri stellt große Erzählungen unserer Zeit infrage. Etwa jene, laut der Imperialismus ein Privileg des sogenannten Westens sei. „Kalte Füße“ ist somit das, was man „das Buch zur Stunde“ nennt.