Mircea Cărtărescu im Interview: "Russland war immer ein Unterdrücker"
Zu den vielen Preisen, die er bekommen hat, gehört der Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Darüber, was bei ebendieser Verständigung im Argen liegt, sprach der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu mit dem KURIER anlässlich der Präsentation seines neuen Buches.
KURIER: Es gibt Verstimmungen zwischen Rumänien und Österreich, weil Österreich ein Veto gegen die Schengen-Aufnahme Rumäniens eingelegt hat. Wie sehen Sie das?
Mircea Cărtărescu: Rumänien hat es verdient, endlich in die Schengen-Zone aufgenommen zu werden. Es ist ein stabiles Land, eine Demokratie. Vielleicht keine perfekte, aber eine Demokratie, die das Recht auf freie Meinungsäußerung respektiert. Ja, es gibt Probleme wie Korruption oder die Mediokrität der politischen Klasse, aber wir bekommen das in den Griff.
Mit der europäischen Verständigung hapert es auch an anderer Stelle. Die meisten osteuropäischen Länder haben eine andere Perspektive auf den Ukraine-Krieg als viele Menschen in Österreich und Deutschland, die finden, man solle sich raushalten, die Ukraine solle verhandeln, dann gäbe es Frieden. Wie sieht man das in Rumänien?
Wir kennen Russland besser. Wir wissen, was wir vom russischen Reich zu erwarten haben. Russland hatte immer die Mentalität eines Reichs. Polen, Rumänien, Moldau und wohl die meisten Staaten der ehemaligen Sowjetunion haben enorm unter der sowjetischen Herrschaft gelitten, und wir fürchten sie nach wie vor. Deshalb unterstützen wir die Ukraine. Sie ist für uns eine Art Zaun zwischen Europa und Russland. Russland war immer ein Unterdrücker. Deshalb stehen die Rumänen auf der Seite der Ukrainer.
Sie sind in der Ceauşescu-Diktatur aufgewachsen. Wie beurteilen Sie den Umgang Westeuropas mit Putin? War es naiv zu glauben, man könne mit Diplomatie alles erreichen?
Herkömmliche Diplomatie kann bei Putin nichts ausrichten. Er kann mit einer Art von Politik, wie etwa Macron sie versucht, nicht gezähmt werden. Putin versteht nur Stärke. Zivilisiertes Verhalten ist bei ihm komplett sinnlos.
Sie werden immer wieder als kommender Literaturnobelpreisträger genannt. Der Nobelpreis-Trägerin 2022, Annie Ernaux, wurde im Nachhinein ihr Engagement in der Israel-kritischen BDS-Bewegung vorgeworfen. Was würde man bei Ihnen finden?
So viel ich weiß, wird der Literaturnobelpreis für Literatur vergeben, nicht für moralisches Verhalten. Darüber hinaus gab es schon wesentlich schwierigere Fälle, was das betrifft. Ich denke etwa an den österreichischen Nobelpreisträger Peter Handke, der mit (dem verurteilten Kriegsverbrecher, Anm.) Slobodan Milošević befreundet war. Ich glaube, es sollte immer um die literarische Qualität gehen. Zugleich finde ich schon, dass ein guter Schriftsteller auch ein guter Mensch sein sollte, der nicht in politisch oder ideologisch zweifelhafte Dinge verstrickt sein sollte. Ich habe diesbezüglich nichts zu verstecken. Ich war politischer Journalist und habe immer versucht, Benachteiligte zu unterstützen. Ich habe über die Diskriminierung der Roma geschrieben, über Gleichbehandlung und Demokratie. Ich bin Demokrat und Humanist. Ich habe nichts zu verbergen, auch, wenn ich den Nobelpreis nicht bekomme.
Frankreich hat Tradition darin, Werk und Verfasser zu trennen – siehe der deklariert antisemitische Schriftsteller Celine, der heute noch in der Schule gelesen wird. Ist es möglich, zu sagen: Ein Mensch kann ein Meisterwerk schreiben, aber moralisch nicht auf der Höhe seines Werks sein?
Leider ist das sogar sehr häufig. Man sollte aber zwischen dem Werk und den menschlichen Qualitäten eines Schriftstellers unterscheiden. Jemand kann ein schlechter Mensch sein, aber so lange sein Werk nicht ideologisch befleckt ist, sollte man es nicht aufgeben. Es gibt großartige Schriftsteller, die unerfreuliche ideologische Positionen vertreten. Darunter Schriftsteller wie Mircea Eliade, der für die kommunistische Geheimpolizei Securitate tätig war. Aber sein Werk ist davon unberührt, es ist pure Literatur.
Sie schreiben seit 1978, aber erst seit dem Sturz Ceauşescus 1989 ausschließlich Romane. Wurde Ihr Schreiben von den politischen Umständen beeinflusst?
Kaum. Ich bin Teil einer Schriftsteller-Generation, die schon während der Diktatur innerlich sehr frei war. Wir lebten in der Poesie, in der Literatur, und wir wollten so schreiben wie im Rest der Welt. Etwa wie die Beatniks in den USA. Wir lernten von ihnen und waren bestrebt, ihre Attitüde mit unserer surrealistischen Avantgarde zusammenzubringen. Wir schrieben völlig frei, unberührt davon, dass wir damals, wie alle anderen Rumänen, in Hunger, Kälte und Angst vor der Securitate lebten.
Das bedeutet, das fantastische, surreale Schreiben, das man von Ihnen, aber auch von anderen Autoren des ehemaligen Ostblocks kennt, ist kein Erbe einer Zeit, in der man manches metaphorisch verklausuliert schrieb, um nicht ins Gefängnis zu kommen?
Ich habe während der Diktatur genauso geschrieben wie danach. Ich wurde von Schriftstellern beeinflusst, die ich liebte. Darunter waren nun einmal viele Autoren des Surrealismus, des Magischen Realismus wie Márquez, Vargas Llosa oder Cortázar. Zugleich gab es auch in Rumänien Schriftsteller, die in dieser Tradition schrieben, beginnend bei Eminescu und Eliade. Das waren große Vorbilder. Von ihnen habe ich Schreiben gelernt. So, wie ich glaube, dass Literatur sein sollte: interessant, kraftvoll, überraschend.
Manche Kritiker glaubten, in Ihrem Buch „Melancolia“ Kafka zu erkennen – „Kafka auf LSD“. Können Sie damit etwas anfangen?
Viele Kritiker dichten mir Proust, Kafka und Borges an, wenn sie meine Literatur beschreiben wollen. Schmeichelhaft, aber ich glaube, mein Schreiben steht für sich. Ich lese enorm viel. Natürlich beeinflusst mich das. Literatur bedeutet nicht Unterhaltung, sie bedeutet Wissen und Bereicherung. Wer liest, lernt über sich und die Welt.
„Melancolia“, ein poetisches, nicht unbedingt einfaches Buch, ist ein großer Erfolg. Überrascht Sie das?
Ja, denn es ist kein Buch, das strahlt. Es ist ein melancholisches, meditierendes Buch. Vielleicht haben die Menschen darin etwas gefunden, das heute rar geworden ist. Ein inneres Leben. Zeitgenössische Literatur ist oft sehr von Aktualität geprägt, sehr selten von der inneren Welt, wie man sie etwa von den deutschen Romantikern kennt, die ebenfalls wichtige Einflüsse für mich waren.
Lesen Sie österreichische Autoren?
Natürlich. Allerdings nicht die zeitgenössischen wie Handke oder Jelinek. Die mag ich nicht besonders, sie sind mir zu harsch. Was ich lese, sind vor allem Autoren der Zwischenkriegszeit wie Kafka, Wittgenstein oder, etwas später, Hermann Broch. „Der Tod des Vergil“ ist ein Meisterwerk.
Mehrfach ausgezeichnet
Mircea Cărtărescu wurde 1956 in Bukarest geboren und lebt in seiner Heimatstadt. 2015 erhielt er den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung und den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2018 den Thomas-Mann-Preis. Auf Deutsch erschienen u. a. 2008 bei Suhrkamp seine Kurzerzählungen „Warum wir die Frauen lieben“, bei Zsolnay die „Orbitor“-Trilogie (2007–’14), „Die schönen Fremden“ (2016) und der Roman Solenoid (2019).