Blixa Bargeld: Vom Israel-Krieg über Gliederfüßer zum neuen Album „Rampen"

14. Juni 2022, Wiener Arena: Blixa Bargeld steht mit seiner Band Einstürzende Neubauten auf der Bühne, stimmt den vorletzten Song an – ein Stück, das die Band komplett improvisiert. „Ick wees nich“ wiederholt er dabei beschwörend.
Diese Improvisation ist in der Zwischenzeit zum Song geworden, die Kerntextzeile – Berlinerisch für „Ich weiß es nicht“ – zum Titel des Liedes. Erscheinen wird es kommenden Freitag auf dem neuen Neubauten-Album „Rampen“.
Improvisationen
„Rampen“ sind im Sprachgebrauch der Band Stellen in einem Konzert, an denen sie auf Basis von Minimal-Absprachen improvisieren. „Das kann sein, dass wir uns ausmachen, dass der und der beginnt, oder dass wir ganz langsam anfangen und dann schneller werden“, erzählt Bargeld im Interview mit dem KURIER. „Ich schreibe seit Jahren Textfragmente in Notizbücher und hatte mir auf dieser 2022er-Tour alle paar Tage ein neues Set dieser Fragmente in meinen Teleprompter geladen und damit improvisiert. Das machen wir, seit es die Band gibt, das ist nicht neu. Auch nicht, dass wir diese Improvisationen im Studio später für Alben aufnehmen. Neu ist bei diesem Album, dass nur Songs drauf sind, die aus Rampen entstanden sind.“
Schlaflosigkeit
So ist der Song „Wie lange noch“ in Bologna geboren, „Besser Isses“ in Paris, „The Pit Of Language“ in London und „Trilobiten“ in Prag. Dass die Texte praktisch schon vorhanden waren, als Bargeld mit seiner Band ins Studio ging, konnte nicht verhindern, dass die Aufnahmen wieder zu dem wie üblich extrem intensiven Prozess wurden.
„Wenn wir ein Album machen, bin ich in einem Denkgebäude, das mich Tag und Nacht begleitet, und ich kann nicht mehr aufhören, über all diese Texte nachzudenken. Diesmal kam dazu, dass ich mir den Oberschenkel am oberen Ende schräg durch den Knochenansatz durchgebrochen hatte. Da konnte ich nicht mehr liegen und bin in einer Spirale der Schlaflosigkeit immer weiter abgeglitten. Ich war dann in Behandlung, aber der Nebeneffekt war, dass die Schranke zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein komplett perforiert war.“

Die Einstürzenden Neubauten starten ihre Tour am 5. 9. mit dem KURIER-Konzert in der Wiener Arena
Ein Resultat davon: Für den Song „Everything Will Be Fine“ schrieb Bargeld sechs komplett verschiedene Texte, alle mit völlig anderen Themen. Das löste sich erst am 7. Oktober 2023 mit dem Überfall der Hamas auf Israel.
„Ich habe das nach der ,Tagesschau’ geschrieben, nachdem ich mit meiner Frau darüber gesprochen hatte. Sie ist Chinesin, meine Kinder sind Halbchinesen. Wenn ich sehe, wie die AfD über Migration redet, wenn ich ihre Umfragewerte sehe, wenn ich sehe, was mit der Hamas und Israel passiert und all die anderen Dinge, die in der Welt vorgehen, fragen wir Bargeld-Leute uns: Wo können wir jetzt noch hin?“
Werdegang
Blixa Bargeld wurde am 12. Januar 1959 in West-Berlin als Hans-Christian Emmerich geboren. Er ist Musiker, Komponist, Performance Künstler, Schauspieler und Autor. Das Pseudonym erinnert an den dadaistischen Künstler Johannes Theodor Bargeld, der Vorname kommt von einer Filzstiftmarke
Neubauten
Bargeld gründete die Einstürzenden Neubauten am 1. April 1980 für ein Konzert in Berlin, für das er „ein paar Freunde anrief“. Die ersten Konzerte spielte die Band mit normalen Instrumenten, doch Drummer Andrew Unruh musste aus finanziellen Gründen bald sein Schlagzeug verkaufen. Er holte sich stattdessen Abfall von Baustellen, mit dem die Band zu experimentieren begann
Nick Caves Band
Von 1984 bis 2003 war Bargeld Gitarrist in Nick Caves Band The Bad Seeds. Er stieg aus, weil er die Mathematikerin Erin Zhu heiraten wollte und ihm zwei Bands und eine Ehe zu viel gewesen wären
Mythologie
Wie immer setzen die Einstürzenden Neubauten das künstlerisch in Songs um, die von Rhythmen und diversen Geräuschen, von „außermusikalischen akustischen Ereignissen“ geprägt sind und Bargelds Rezitationen seiner sprachlich präzisen, oft auch humoristischen Texte, eindringlich in den Äther schicken.
„Ich beackere, seit ich schreibe, dieselben Metaphernfelder“, erklärt Bargeld. „Es geht viel um Sprache und Linguistik, um Identität. Ich benutze hauptsächlich naturwissenschaftliche Metaphern, die ich mit Mythologie verbinde. Natürlich verbindet sich das dann mit dem, was gerade um mich herum passiert.“
Ein Paradebeispiel dafür ist auf „Rampen“ der Song „Trilobiten“. Trilobiten ist eine ausgestorbene Klasse meeresbewohnender Gliederfüßer, die eingeschlechtlich waren. In dem Text verbindet Bargeld das mit der Idee, dem „biologischen Determinismus“ zu entkommen. „Das kommt von einem Fragment, das ich vor Jahren geschrieben habe. Da hat mir eine Festivalveranstalterin in Kanada einen fossilen Trilobiten geschenkt – mit den Worten: Das ist aus einer Zeit, bevor es Geschlechter gab!“
Transsohn
Ein Ereignis in seiner Familie spielt auch in den Text hinein: „Beim letzten Album hatte ich noch eine Tochter. Die hat sich in der Zwischenzeit geoutet, und jetzt habe ich einen Sohn. Damit musste ich mich beschäftigen, das Thema zieht sich durch mehrere Songs auf ,Rampen’. Ich habe mich schon in früheren Songs, bevor sich das in meiner Lebensrealität manifestiert hat, mit diesem Thema beschäftigt, war da auch nicht anderer Meinung. Aber dadurch, dass ich jetzt einen Transsohn habe, wurde es aktualisiert. Ich habe zum Beispiel Paul B. Preciado gelesen, der der radikalste Denker in dieser Richtung ist.“

Gefeiert wird die Veröffentlichung von „Rampen“ am Osterwochenende mit einem großen Supporter-Festival in Berlin, bei dem die Neubauten ihre Instrumente herzeigen, ein Konzert nur für Supporter spielen und sie zu den für die Band wichtigsten Orten der Stadt führen. Seit 22 Jahren arbeitet die Band auf Basis von Crowdfunding, aber damit ist nach „Rampen“ Schluss.
„Als wir damit angefangen haben, waren wir die Avantgarde in digitaler Intimität, indem wir den Unterstützern exklusive Einblicke in unsere Arbeit gegeben haben. Da gab es aber noch keine Sozialen Medien. Es war noch nicht üblich, dass Künstler vom Frühstück bis zum Studio alles auf Instagram ausbreiten. Wenn wir das mit dem Supporter-Modell in diesem Umfeld weitermachen würden, würden wir uns in einem immer kleineren, elitäreren Zirkel bewegen. Deshalb beenden wir das hiermit und überlegen, wie wir anders weitermachen können“, sagt Bargeld.
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