Eine verhängnisvolle Affäre - aus der Schlüssellochperspektive
Zum Neustart der Theatersaison am 19. Mai - nach einer gut halbjährigen Pause - gaben die Kollegen dem entwöhnten Publikum im KURIER einige hilfreiche Tipps. Ressortleiter Georg Leyrer zum Beispiel warnte, dass man nicht vorspulen könne: "Auch wenn's mittendrin mal ein bisserl fad ist: Da muss man durch." Im Akademietheater kam das Gefühl der Langeweile aber wohl kaum auf: Regisseurin Mateja Koleznik verdichtete das einstige Skandalstück "Fräulein Julie" auf gerade einmal 65 Minuten.
Mit einem anderen Hinweis traf Leyrer aber ins Schwarze. Denn er fragte: "Sie sehen Menschen, die aus der Ferne unverständliche Sätze zu Ihnen herüberschreien? Sie würden gerne (...) lauter drehen, finden aber die Fernbedienung nicht?" Und er gab die lapidare Antwort: "Keine Sorge, das gehört wirklich so."
Tatsächlich: Raimund Orfeo Voigt stellte in das nackte Bühnenhaus des Akademietheaters eine naturalistische Guckkastenbühne eines Badezimmers, nachträglich in die herrschaftliche Villa eingebaut. Die vierte Wand - also jene zum Publikum - blieb in Form einer Plexiglaswand bestehen. Und weil sich das dreiköpfige Ensemble nicht immer im Badezimmer, sondern auch in der dahinter liegenden, unsichtbaren Küche aufhält, versteht man mitunter tatsächlich wenig.
Zwischendurch versagte bei der Premiere die künstlich klingende Verstärkeranlage, zumeist ist aber gewollt, dass man nicht alles versteht. Man muss eben die Ohren spitzen. Einen Zahnputzbecher als Schallverstärker zu Hilfe nehmen, kann allerdings nur Sarah Viktoria Frick als leidgeprüfte wie pflichtbewusste Köchin Kristin. Sie muss - und sie will wohl auch - zuschauen, wie ihr Verlobter Jean, der fesche Diener (Itay Tiran), eine Affäre mit der Tochter des Grafen beginnt.
Splitterfasernackt
Kollege Guido Tartarotti garnierte im KURIER seinen wohlmeinenden Ratschlag, wieder ins Theater zu gehen (man verlerne es nicht), mit der Anekdote, dass sich sein Großvater über Sex auf der Bühne empören konnte, was ihn aber "jahrelang in Hochstimmung" versetzt hätte. Diese Inszenierung hätte beim alten Herrn geradezu eine Euphorie ausgelöst. Denn das Fräulein Julie kommt nach dem Sex (man kriegt den Beginn hinter der Tür mit den Milchglasscheiben nur schemenhaft mit) ins Badezimmer, um sich freizuwaschen. So steht Maresi Riegner splitterfasernackt vor uns Voyeuren. Na gut, sie trägt noch einen Strumpfhalter. Das ist wohl dem Naturalismus geschuldet.
Was sonst noch alles im Badezimmer passiert, sei nicht verraten. Eine Menge! Der Clou der Inszenierung, die das Geschehen in die 1920er-Jahre verlegt, ist tatsächlich der Perspektivenwechsel: Zusammen mit der Köchin verfolgen wir die Entwicklung der verhängnisvollen Affäre quasi durchs Schlüsselloch. Nicht das enervierende Fräulein Julie, das den Diener aufganselt, steht im Zentrum. Auch nicht Jean, der aus Kalkül handelt. Sondern die kreuzbrave, devote Kristin im biederen Sonntagskostüm. Sie hilft ihrem Verlobten sogar in ein frisches Hemd der Unschuld - und beseitigt zum Schluss auch noch alle Spuren.
Der mit Jubel war recht groß. Er galt auch dem Liveerlebnis. Und ganz besonders Sarah Viktoria Frick.
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