documenta fifteen: Die große Kunst- und Aktivitätenmesse
Die Medien der Avantgarde im Jahr 2022 sind das handgeschriebene Flipchart-Diagramm und das bedruckte Stoffbanner. So stellt es sich zumindest auf der 15. Ausgabe der documenta dar, die am Samstag eröffnete und bis 25. September dauert.
Dass die Veranstaltung ein Schauplatz der Avantgarde sei, wurde in den Einweihungsreden betont. Und das, obwohl das zur künstlerischen Leitung bestellte indonesische Kollektiv ruangrupa nicht den Kunstbegriff der westlichen Moderne vertritt, bei dem ein Wettstreit der Ideen und kritische Selbstbefragung Fortschritt verheißen: Das künstlerische Werk rückt bei ihnen in den Hintergrund, der Markt sowieso, was zählt, sind der Prozess und die Zusammenarbeit. „Make Friends, Not Art“ ist ein Slogan, der bei dieser documenta gern fallen gelassen wird.
Die Nicht-Ausstellung
Eine Konfrontation der Kunstsysteme, als Fortsetzung der erwähnten Selbstkritik, wäre die Chance dieser documenta. Als Ausstellung ist die Veranstaltung aber ein ziemlicher Reinfall. Das liegt vor allem daran, dass die geladenen Kollektive (die weitere Gruppen und Personen ins Boot holen konnten) zu oft darauf fokussieren, sich zu präsentieren, anstatt etwas zu präsentieren. Orte, an denen sich die Energie dieser Initiativen spürbar verdichtet, gibt es wohl punktuell – man muss sie aber suchen.
Überbordend ist dagegen die Dichte an Stoffbannern und Transparenten, oft mit Manifest-Charakter: Sie dienen der Selbstdarstellung von Initiativen, die etwa den Zusammenhalt in benachteiligten Regionen und Gemeinschaften stärken, wie bei der „Jatiwangi Art Factory“ aus Indonesien, die eine Ziegelfabrik zum Kulturzentrum erweiterte und mit selbst hergestellten Terrakotta-Musikinstrumenten Einheit stiftet. Andere, wie das dänische „Trampoline House“, kümmern sich um Geflüchtete und nutzen kreatives Arbeiten zur Traumabewältigung.
Es ist gewiss so, dass viele der Gruppen in ihren Gemeinschaften wichtige Arbeit leisten, von der man wohl nichts mitbekäme, wenn es dafür keine Bühne gäbe. Es kommen dringliche Probleme zur Sprache, für die kreative Lösungen gefunden wurden und werden.
Und doch verblüfft die Naivität, mit der viele Projekte aus ihren Ursprungszusammenhängen nach Kassel verpflanzt wurden. In Erwartung eines „Prozesses“ durchschreitet das Publikum Räume voller upgecycleter Möbel und Displays aus Schnellbau-Regalen, kuratorische Arbeit in Form einer räumlichen Dramaturgie findet nicht statt. Auch Details – vor Schreibfehlern strotzende Wandtexte, ruckelnde Videos mit asynchronen Untertiteln – fallen unangenehm auf.
Das Ergebnis ist, dass sich die documenta bei ihrer Anrufung des Globalen selbst provinzialisiert – und der „globale Süden“ sich gegen seine Intentionen selbst exotisiert.
Besonders augenfällig ist das im Hübner-Areal, einer Industriehalle, in deren Inneren Zelte aufgeschlagen wurden und in dem sich etwa das „Festival sur le Niger“ mit einem Ensemble aus Marionetten präsentiert, ohne dass deren Zeitgemäßheit irgendwie erklärt würde.
Global-Provinziell
Der Süden, der sich hier darstellt, ist über weite Strecken weiterhin eine Welt des Kunsthandwerks, Digitalität scheint ihm auf seltsame Weise fremd. Das „Nest Collective“, das die Auswirkungen des Gebrauchtkleiderhandels auf Afrikas Wirtschaft dringlich darstellt, verleidet zwar die Lust, jemals wieder etwas in einen Altkleidercontainer zu werfen – formal bleibt der Beitrag, der in einem aus Altkleiderballen gebauten Haus im Karlsaue-Park gezeigt wird, aber eine TV-Doku.
Kollektive Traditionen
Auch die elaboriert ausgeführten Protest-Pappfiguren des Kollektivs Taring Padi bleiben fremd im Vorgarten des „Hallenbads Ost“, wo sie neben einigen Eichen, die im Zuge der berühmten Joseph- Beuys-Aktion bei der documenta 7 (1982) gepflanzt wurden, aufgestellt sind.
Dabei zeigen gerade diese Bäume, dass Kassel eine lange Geschichte mit kollektiven Kunstaktionen hat. Ai Weiwei – 2007 holte er 1001 Chinesen nach Kassel – kommt in den Sinn, ebenso der jüngst mit dem österreichischen Kiesler-Preis geehrte Theaster Gates auf der documenta 13.
Das kollektive Tun stand bei diesen Beiträgen aber in einem Spannungsverhältnis mit einem Formdenken, das bei dieser documenta kaum zu bemerken ist. Wenn der Prozess die Form ersetzt, wie es das Konzept nun verheißt, besteht freilich die Hoffnung, dass aus der Veranstaltung noch etwas Produktives erwächst. Was das auch immer sein mag, kann ein Kurzzeitbesucher nicht erfassen.
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