documenta: Eine Weltkunstschau schafft sich ab
Wenn die Welt nach Kassel kommt, hat das stets etwas Skurriles: Etwa, wenn beim traditionellen Empfang des Bürgermeisters die Schar internationaler Kunst-Profis auf die städtische Blaskapelle und das vielfältige Sortiment hessischer Wurstwaren trifft.
Diesmal ist die Welt noch vor dem am Mittwoch startenden Eröffnungsreigen der documenta nach Kassel gekommen. Nicht, weil das Kuratoren-Kollektiv ruangrupa vorab Events über sein auf Freundschaft und Gemeinschaftlichkeit gebautes Konzept abhielt: Nein, die Welt kam in Form heftiger Antisemitismus-Vorwürfe, gescheiterter Vermittlungsversuche und zuletzt in Form eines vandalistischen Anschlags auf einen Ausstellungsort.
Morddrohungen
In der Werner Hilpert-Straße 22 schmierten Unbekannte in der Nacht von 27. auf 28. Mai die Codes „187“ und „PERALTA“ an die Wand. „187“ steht bei der kalifornischen Polizei für Mord – und kann als Drohung gelesen werden. „Peralta“ gilt als Anspielung auf Isabelle Peralta, Leiterin einer rechtsextremen Jugendorganisation in Spanien.
Die Nerven sind entsprechend angespannt, selbst über eine Last-Minute-Absage wurde spekuliert. Dabei ist die Antisemitismus-Debatte, die die öffentliche Wahrnehmung der alle fünf Jahre abgehaltenen, als weltweit wichtigste Kunstschau titulierten documenta überschattet, nur eine Baustelle: Auch die unaufgearbeitete Vergangenheit der Schau und Kritik an ihrem Kunstbegriff lassen die Institution wackliger dastehen als je zuvor.
Nahe am Boykott?
Die Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta kamen im Jänner auf, als ein lokales „Bündnis gegen Antisemitismus“ die Inklusion der palästinensischen Künstlergruppe „A Question of Funding“ in die Schau kritisierte. Diese würde sich in einem Zentrum in Ramallah treffen, das nach dem arabischen Nationalisten Khalil Sakakini benannt ist, der mit Hitler sympathisierte. Dem documenta-Kuratorenkollektiv wurde seinerseits Nähe zur BDS-Bewegung, die den Boykott Israels fordert, unterstellt.
Zwar erwiesen sich die zentralen Anwürfe als unhaltbar, eine NS-Verbindung Sakakinis ließ sich ebenso wenig klar belegen wie eine BDS-Verbindung ruangrupas. Aber die Dinge wurden von da an nicht besser: Ein geplantes klärendes Gespräch wurde abgesagt, nachdem sich der Zentralrat der Juden in Deutschland unzureichend eingebunden fühlte; der Vorwurf, dass kaum israelische Kunstschaffende in der documenta-Auswahl vorkommen, trifft jedenfalls zu.
Wer darf definieren?
Das aus Indonesien stammende Kuratorenteam klagte wiederum, dass der Antisemitismusvorwurf mit rassistischem Unterton gegen sie als Vertreter des „globalen Südens“ geführt wurde. Die Debatte rührt also am Kern der Gedenkkultur: Wer darf in Deutschland 2022 definieren, was antisemitisch ist?
Der mutmaßlich von Rechtsextremen verübte Anschlag auf genau jenen Ausstellungsraum, der für das kritisierte Kollektiv „A Question of Funding“ vorgesehen war, holte die Debatte wieder auf das lokale Niveau zurück – und machte den zweiten wunden Punkt der Veranstaltung offensichtlich: Denn zwischen dem altehrwürdigen Museum Fridericianum, dem Gedenkmuseum der Gebrüder Grimm und zahlreichen Orten in Industriebrachen der hessischen Kleinstadt werden regelmäßig die großen Themen verhandelt, ohne dass dabei das Bewusstsein entsteht, dass diese die Menschen vor Ort wirklich betreffen. Wobei schon der Mord am Türken Halit Yozgat durch den „nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) im Jahr 2006 ein Weckruf hätte sein können.
Abstrakt global
„Eine möglichst abstrakte Anrufung des Globalen ersetzte weitgehend eine Auseinandersetzung mit Deutschlands Gegenwart und Vergangenheit“, erklärte die Künstlerin Hito Steyerl jüngst in einem Vortrag, den sie in der abgesagten Diskussionsrunde der documenta nicht hielt und stattdessen in der ZEIT publizierte.
Der Blick aufs Anderswo ist tief in der DNA der „Weltkunstschau“ verankert – wurde sie doch 1955 nicht zuletzt zur Imagepolitur Deutschlands gegründet: Die „Täternation“ sollte nach dem Krieg zum Schauplatz der westlichen Moderne werden.
Wie eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums 2021 darlegte, übersah man dabei, dass Werner Haftmann, Kunsthistoriker und Ideengeber der ersten documentas, nicht nur NSDAP-Mitglied, sondern auch SA-Mann gewesen war. Er propagierte Abstraktion in der Kunst als Ort des Neustarts – der Künstler als Seher, der über dem Gerangel der Welt steht, sollte den Weg weisen. Den Nachhall dieser Idee konnte man noch in Joseph Beuys’ Eichenpflanzungen (documenta 7, 1982) oder der 1992 aufgestellten „Himmelsstürmer“-Skulptur von Jonathan Borofsky vernehmen. Vor allem aber feierte die documenta Kunst als Leistung des Individuums – wobei diese Idee spätestens bei der 13. Ausgabe, bei der auch Tiere und Pflanzen kreative Rollen spielen durften, zu bröckeln begann.
In der Scheune
Wie anders ist nun das Kunstverständnis, das ruangrupa nun propagiert: „lumbung“ heißt die zentrale Metapher, sie bezeichnet eine Reisscheune, in die Bauern Produktionsüberschüsse geben und das, was sie selbst brauchen, herausnehmen. Die geladenen Künstler sind großteils Kollektive, statt Herkunftsnationen werden nur Zeitzonen genannt.
„Das ist das Ende der documenta“, wetterte Bazon Brock, lange eine prägende Figur in Kassel, zuletzt im KURIER-Interview: Die „Diktatoren der kulturellen Identität“ würden über Individualleistungen triumphieren. Zugleich lässt ruangrupa – etwa mit seinem Engagement für nachhaltige Organisation und die Einbindung des Publikums – auch vermuten, dass die fünfzehnte documenta vieles richtig machen könnte. Als Feierstunde für den Westen hat die Kunstschau in Kassel aber wohl ausgedient.
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