Da ist er wieder, der Satz, den das aufgeklärte Kunstpublikum immer in großem Bogen umschifft: Er lautet „... und was ist daran jetzt Kunst?“ und kommt gewöhnlich nur aus dem Mund von Banausen, die sich bekanntlich dadurch definieren, dass sie stets ganz genau wissen, was Kunst ist.
Die documenta fifteen, die am Mittwoch in Kassel für Fachpublikum öffnete und ab Samstag für alle offen steht, legt es mit einiger Frechheit darauf an, auch Eingeweihten diesen Satz abzupressen. Denn das Programm, das die Räume vieler Institutionen der Stadt sowie einer Reihe alternativer Orte rund ums Zentrum füllt, ist sehr weit davon entfernt, den traditionellen Kunstkanon auch nur als Reibebaum zu benutzen.
Zwar gibt es auch Bilder, Objekte, Videos und Installationen – dazu in einem späteren Bericht mehr. Doch es ist schon ein Statement, wenn ein Saal am Eingang des Fridericianums – eines der ältesten Museen Europas und traditionell das Herz der documenta – mit Secondhand-Sofas und Nähmaschinen ausgestattet wird und ein weiterer mit einer Kinderrutsche.
Schneeballsystem
Als „Kollektiv, das Kollektivität lehrt“ bezeichnete die New York Times das Team ruangrupa, das 2019 zur künstlerischen Leitung der documenta berufen wurde und von da an eine Art Schneeballsystem in Gang setzte: Es lud 14 weitere Kollektive („lumbung members“) und 54 Kunstschaffende („lumbung artists“) ein, die wieder eigene Netzwerke aktivierten – so sind „mindestens 1.500 KünstlerInnen beteiligt, in noch immer steigender Zahl“, wie Generaldirektorin Sabine Schormann am Mittwoch sagte. Geldmittel würden in diesem System „gerecht verteilt“ – neben Künstlerhonoraren und Produktionsbudgets gibt es auch einen Pot für Gemeinschaftsprojekte, die allen Teilnehmern zugutekommen.
Daher steht nun am Ende der großen documenta-Halle (ein paar Meter hinter der Skateboard-Miniramp, die es hier auch gibt) eine komplette Druckerei, in der täglich neben Flyern und Postern eine Zeitung produziert wird.
Überhaupt haben viele Räume nicht Präsentations-, sondern Werkstattcharakter: Die Gruppe El Warcha aus Tunis etwa hat im Fridericianum aus Fässern, recycelten Sesseln und Bauholz eine große Arbeitslandschaft geschaffen, die bald genutzt werden soll, Gudskul aus Indonesien bietet u. a. einen Playdough (Plastillin-)Workshop an.
Kritisch Werken
Wer auf der Suche nach spektakulärer Kunst oder ästhetischer Versenkung hierherkommt, muss sich also, gelinde gesagt, veräppelt fühlen.
Und doch erscheint der Schritt, einer solchen Kollektiv-Szene eine Bühne zu bieten, für die documenta konsequent: Wer sich als Forum der Welt versteht, muss wohl auch einsehen, dass sich viele Menschen im „globalen Süden“ wenig darum scheren, ob die Hervorbringungen ihrer Kreativität den Standards eines elitendominierten Kunstsystems genügen.
Die Idee von Kunst als „Ausrüstung fürs Leben“, wie es der Literaturtheoretiker Kenneth Burke im Hinblick auf die Dichtung formulierte, kommt dem Verständnis der documenta-Teilnehmer möglicherweise näher – immer wieder geht es um Selbstbehauptung und um Netzwerke, die dem Überleben dienen. Wobei es keine entrückte Sphäre gibt: Wie ein Mitglied des kenianischen „Wajukuu Art Projects“ in einem Video erzählt, herrschte in der Gruppe lange Uneinigkeit darüber, ob man die gemeinschaftlich angeschaffte Kamera nicht verkaufen sollte, um Essen zu beschaffen.
Das westliche Kunstsystem muss sich von solchen Lebenswelten nicht bedroht fühlen. Wenn es den Auftrag, sich selbst immer wieder „kritisch zu hinterfragen“, ernst nimmt, kann es vielleicht davon lernen. Wobei klar ist, dass eine solch radikale Art der Selbstkritik gegenwärtig nur auf Basis einer westlich-demokratischen Gesellschaft überhaupt möglich ist.
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