Der Dirigent hatte selbst Corona. Und wurde mittlerweile in den USA geimpft. Die (gesellschafts-)politischen Entwicklungen beobachtet er präzise und mit großer Sorge.
KURIER: In zweieinhalb Wochen sollen Kulturveranstaltungen vor Publikum wieder möglich sein. Vertrauen Sie diesen Ankündigungen?
Franz Welser-Möst: Ich glaube, es wird wirklich am 19. Mai losgehen. Damit rechnen auch Institutionen wie die Staatsoper, der Musikverein oder das Konzerthaus.
Die wollen alle aufsperren, anders als etwa das Burgtheater, das sein Haupthaus wegen Renovierungsarbeiten noch nicht öffnet. Das Burgtheater hat sich auch im Lockdown durch große Abwesenheit ausgezeichnet. Davon hat man wenig gehört, das finde ich schade.
Zahlreiche Kulturinstitutionen waren völlig abgetaucht. Wie erklären Sie sich das?
In einer solchen Krise sieht man, wie Kulturbetriebe geführt werden. Viele Zeichen und Aktivitäten wurden an der Wiener Staatsoper, im Linzer Brucknerhaus, bei den Salzburger Festspielen und auch vonseiten der Wiener Philharmoniker gesetzt.
Stichwort Philharmoniker: Wie empfinden Sie die Debatte, ob deren Impfung gerechtfertigt war?
Wir müssen doch als Gesellschaft froh über jeden sein, der geimpft ist.
Sind Sie schon geimpft?
Ja, ich wurde Ende Februar in Amerika geimpft. Aber nicht, weil ich vielleicht einen VIP-Vorteil hatte, sondern weil ich einfach zu einer Impfstation gegangen bin, die hatten Impfdosen übrig. Jeder, der wollte, hat eine Impfung gekriegt. Präsident Biden hat das Motto ausgegeben, dass die Impfung zu den Menschen kommen muss. So wurde nicht nur in Impfstraßen, sondern auch in den Supermärkten oder in den Drogeriemärkten geimpft.
In Europa steht die EU sehr in der Kritik wegen des Impf-Rückstandes. Zu Recht?
Ich bin ein großer Freund Europas, aber das hat nicht geklappt. Da war die EU wieder ein Bürokratiemonster, das den zeitlichen Wettlauf mit anderen verloren hat.
Gesundheitspolitik ist eigentlich Ländersache. Hat sich in der Krise nicht auch gezeigt, dass jeder nur auf sich selbst schaut?
Absolut. Aber das ist auch ein Symptom unserer Gesellschaft. Wir leben in der Zeit der Selfie-Generation. Jeder ist sich selbst der Wichtigste. Dabei sind wir, wenn wir die Geschichte des Planeten anschauen, rein gar nichts. Und dann wurde auch der Ruf nach individueller Freiheit beziehungsweise gegen die Einschränkung von Freiheitsrechten laut. Was mich so gestört hat, ist die dabei entstandene Debatte. Der Begriff von Freiheit wurde pervertiert und dahingehend umgedeutet, dass jeder nur noch an sich denkt und Freiheiten haben will, von jeder Empathie befreit. Wir sind, ob wir wollen oder nicht, Teil eines größeren Ganzen. Und dann wurde auch sehr schnell mit dem Begriff der Freiheit der Kunst herumgeworfen. Die Freiheit des Einzelnen endet aber immer dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.
Ich nehme an, Sie spielen damit auf die Videos von 50 Künstlern an, die zuletzt für Aufregung gesorgt haben.
Also diese Aktion war meiner Ansicht nach nicht durchdacht. Man hätte sich über die Konsequenzen einer solchen Handlung Gedanken machen müssen, um in weiterer Folge auch dem Kulturbetrieb nicht Schaden zuzufügen. Es haben sich ja auch einige Künstler im Nachhinein davon distanziert. Wie soll jemand, der vielleicht selbst Covid hatte oder jemanden verloren hat, für so etwas Verständnis aufbringen? Die Krise ist auch wie ein Vergrößerungsglas. Und man sieht darunter, dass auch die Freiheit der Kunst in der Satire nicht grenzenlos sein kann.
Stecken da nicht einfach auch Verzweiflung und Ratlosigkeit dahinter, wenn man so lange nicht arbeiten darf?
Für mich zeigt das nur den Egoismus unserer Zeit. Jeder ist ein Selbstdarsteller. Wir hantieren im künstlerischen Bereich mit Dramen und mit Ängsten. Und dann versucht man selbst, die Ängste zu schüren. Wo führt das hin? Zur Selbstzerfleischung einer Gesellschaft.
Angst wurde aber auch von der Politik geschürt. Wie beurteilen Sie das?
Klar war das so. Und das ist auch keine Erfindung unserer Zeit. Angst ist ein unglaublich großer Motivator. Aber diese Aktion der Schauspieler war unreflektiert. Dazu fällt mir Goethes Wort der „Lazarettpoesie“ ein.
Was sehen Sie noch unter dem Corona-Vergrößerungsglas?
Überall Egoismus, auch dort, wo Menschen angeblich einfach nur spazieren gehen und in Wirklichkeit gegen die Maßnahmen demonstrieren. Und viel Irrationales. Zum Beispiel, dass die Leute im ersten Lockdown wie wahnsinnig Toilettenpapier gekauft haben. Das kann doch rational niemand erklären. Das sind Panikattacken, an denen unserer Gesellschaft leidet. Andererseits kommen auch Menschen zum Vorschein, die sich so sehr für unser Gesundheitssystem engagieren und die man bisher kaum bemerkt hat.
Sehen Sie auch den Anstieg des Aggressionslevels?
Der ist wirklich katastrophal. Wenn Menschen – wie zurzeit in Indien – aggressiv auf das Gesundheitspersonal losgehen, obwohl man nur helfen will. Oder bei uns auf die Ordnungshüter. Die Nerven liegen in weiten Teilen der Gesellschaft blank. Man sieht auch, dass viele sehr verwöhnt waren. Jahrelange haben sich immer wieder Künstler darin gefallen, die Politik zu kritisieren. Kaum ist die Krise da, rufen sie nach der Politik. Dann sagt ein Opernsänger tatsächlich in einem Interview, er weiß nicht mehr, wie er die Miete seiner 10.000-Euro-Villa bezahlen soll. Da gibt’s Auswüchse, die wirklich krass sind. Aber ich verliere meinen Optimismus nicht.
Inwiefern?
Man braucht sich nur mit Geschichte zu beschäftigen, um zu sehen, dass die Menschheit manchmal solche Pendelschläge braucht, um sich in eine andere Richtung zu bewegen. Das war jetzt wohl notwendig.
Aber wird es nicht furchtbar lange dauern, bis die Gräben, die aufgerissen wurden, wieder geschlossen sind? Oder kriegen wir das gar nicht mehr hin, weil politische Gruppierungen bewusst das andere denunzieren?
Ja, das ist brandgefährlich. Je größer diese Gräben sind, desto lauter wird der Ruf nach einer starken Führung. Deshalb müssen wir wieder lernen, aufeinander zuzugehen, einander zuzuhören, Respekt voreinander zu haben. Und unvoreingenommen zu sein. Sonst hat Gesellschaft als solche absolut keinen Sinn. Ich habe in den USA die vier Jahre von Trump erlebt, diese Gräben werden noch lange existieren. Aber diese Methode funktioniert nur, wenn man permanent Feindbilder kreiert. Ausländer, die anders ausschauen, oder wer auch immer. Ich finde Unterschiede etwas Großartiges. Und bin total gegen Gleichmacherei, auch bei der Sprache. Deshalb bin ich auch gegen krampfhaftes Gendern. Ich bin, wenn Sie so wollen, erster Feminist und habe in Orchestern mehr Frauen als Männer angestellt. Aber entscheidend war immer nur die Qualität. Im Moment habe ich das Gefühl, dass wir durch diese Gleichmacherei auch unsere Sprache verlieren. Das ist ein Zeichen einer unglaublichen Unkultur.
Apropos Kultur oder Unkultur: Wie haben Sie in der Krise die Rolle der Kultur in der Politik wahrgenommen?
Die Tragik des Ganzen ist die Bildungspolitik. Die letzte große Investition in Bildung und vor allem in künstlerische Bildung gab es in den 1970er-Jahren. Danach spielte Kultur im Bildungssystem eine immer kleinere Rolle. Schon in meiner Jugend musste man sich zwischen Musik und Bildnerischer Erziehung entscheiden. Und jetzt ist endgültig eine Generation an der Macht, die in einem Bildungssystem groß geworden ist, in dem Kultur gar nicht mehr vorkommt. Leider hat sich in diesem Jahr gezeigt, dass sich die schon länger abzeichnende Entwicklung weg von der „Kulturnation Österreich“ nun wesentlich beschleunigt hat.
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