"Die Liebhaberin": Im Streichelkurs das innere Dschungeltier in sich befreien

Keine Angst vor Hautkrebs: Nudistencamp in "Die Liebhaberin"
Lukas Valenta Rinner gewann für Nudistencamp-Satire den Großen Preis der Diagonale.

Die einen joggen, die anderen hackeln. Klare Arbeitsverhältnisse herrschen in einer Gated Community in der argentinischen Provinz. Während reiche Bürger hinter einem elektrischen Zaun ihre Villen bewohnen, sind die Hausangestellten mit Fensterputzen und Parkpflegen beschäftigt. So auch die elegische Belén: Sanft scheuert sie den Boden im Wohnzimmer, besucht Cupcake-Kurse und sammelt Tennisbälle für den Sohn des Hauses auf, der aussieht wie Roger Federer und für ein Turnier trainiert.

Was wie eine streng-schöne und etwas erwartbare Arthouse-Studie von Klassengegensätzen anfängt, wendet Regisseur Lukas Valenta Rinner in ungeahnte Richtung. Gleich hinter dem Anwesen ihrer Arbeitgeber entdeckt Belén eine Nudistensiedlung. Nackerte in allen Formaten lungern in römischen Bädern herum, spazieren durch Wäldchen und schießen auf Papageien. Belén ist fasziniert und nutzt ihre Freizeit, um die Hausmädchen-Uniform abzulegen und sich in Streichelkursen und Sex-Yoga-Gruppen zu verwirklichen.

Swingerclub

Auf der Suche nach Schauplätzen für sein apokalyptisches Sci-Fi-Debüt "Parabellum" hatte der in Salzburg geborene Rinner im Niemandsland vor Buenos Aires einen Nudisten-Swingerclub entdeckt und sich zu seiner eigenwilligen, skurrilen Zivilisationssatire inspirieren lassen. In leer geräumten Bildern entwirft er eine sterile Oberschicht, die damit beschäftigt ist, ihren Besitz zu polieren und die eigenen Körper für Höchstleistungen zu disziplinieren. Die Nudisten hingegen bemalen sich wie Dschungelbewohner und befreien das innere Tier in sich. Rinner vermeidet es, die Kommune zum Hippie-Idyll zu verklären. Auch scheinbar entgrenzte Gesellschaften neigen zur Regelbildung – und können im Extremfall zu spektakulären Maßnahmen greifen.

INFO: Ö/KOR/ARG 2016. 100 Min. Von Lukas Valenta Rinner. Mit Iride Mockert.

KURIER-Wertung:

Gott kommt nicht vor, und Ödön von Horváth muss man suchen. Lose basiert die deutsche Großproduktion auf Horváths antifaschistischem Zwischenkriegsroman rund um einen Lehrer und den Mord an einem Schüler. Stärker schon lassen sich Spuren von "Die Tribute von Panem" ablesen, wenngleich sehr verwaschen. Alain Gsponer ("Heidi") inszenierte ohne nennenswerte Einfälle ein glattes Jugenddrama, dessen autoritätskritischer Inhalt sich wahnsinnig wichtig nimmt und an der eigenen Aufgeblasenheit begeistert.

Die Geschichte spielt in der nahen Zukunft, in der eine Gruppe von Schülern an einem Trainingscamp im Gebirge teilnimmt, um die "Härtesten" unter ihnen zu qualifizieren. Die Jugendlichen sind Teil einer Elite und leben abgetrennt von den ärmeren Schichten. Ein Schüler wird ermordet, der Vorfall aus unterschiedlichen Erzählperspektiven aufgerollt. Kein Dystopie-Klischee bleibt unberührt: Stereotyp prallen die Jugendlichen als Streber, Rebellen oder Mitläufer aufeinander. Aufgeregtes Getrommel auf dem Soundtrack verkündet Spannung dort, wo sie sich in den überdeutlichen Bildern nicht findet.

Hölzerne Stehsätze wie "Ich bin nicht krank, ich bin die Elite" bringen noch die talentiertesten Schauspieler an den Rand ihrer Darstellkraft. So wirkt der nette Fahri Yardım als Depro-Lehrer in der Kaderschmiede seltsam deplaziert. Und Anna Maria Mühe als Vertreterin eines Konzerns spricht mit emotionstoter Stimme und verteilt Beruhigungspillen. Am Ende gibt es den Anblick ihres nackten Hintern gratis.

INFO: D 2017. 114 Min. Von Alain Gsponer. Mit Jannis Niewöhner, Fahri Yardım, Emilia Schüle.

KURIER-Wertung:

"Die Liebhaberin": Im Streichelkurs das innere Dschungeltier in sich befreien
Streber gegen Rebell: "Jugend ohne Gott"

Karl Schmidt war der erste, der "wegen Techno in die Klapse kam": Zu viele Drogen, lautete die Diagnose. Seitdem sitzt "Scharli" (treuherzig: Charly Hübner), wie ihn seine Freunde nennen, in der Anti-Drogen-WG in Hamburg herum. Doch seine alten Kumpels sind mittlerweile gefragte DJs und touren durch die Clubs von Deutschland. Sie brauchen einen Fahrer und Tour-Manager, der nüchtern bleibt, während sie sich das Koks in die Nase blasen. Das Spin-off von Sven Regeners mittlerweile verkultetem "Herr Lehmann" macht eine Nostalgietour in die Anfänge der Technoszene kurz nach dem Fall der Mauer. Die Beteiligten – darunter der als Komödiant eigentlich sehr zuverlässige Detlev Buck – hatten sichtlich Spaß bei ihrer 40-Plus-Party. Trotzdem fühlen sich Regeners flapsige Dialoge und seine lustigen Einfälle (Begräbnisrede vor dem Mistkübel für ein Meerschweinchen) wie Insider-Jokes an, die nicht recht zünden wollen. Nur manchmal flackert die Coolness der Techno-Clubs in jenen kurzen Szenen auf, in der sich die Platten drehen und der Bär tost. Mit Musik von Westbam bis Deichkind.

INFO: D 2017. 111 Min. Von Arne Feldhusen. Mit Charly Hübner, Detlev Buck, Marc Hosemann.

KURIER-Wertung:

Vier Frauen, vier Geschichten, verbunden durch die Tristesse ihrer Schicksale. Zwar geht es in den Episoden um Liebe, aber der in fahlen Farben gehaltene Film zeigt Frauen in Polen, die kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf ein besseres Dasein westlicher Lebensart hoffen, aber unrealistische Wunschträume hegen oder an die falschen Männer geraten. Das harte Leben hat die Protagonistinnen nicht nur äußerlich, sondern auch psychisch deformiert: Sie sind frigide, devot, neurotisch und vor allem voller Angst vor der Zukunft, die durch die Öffnung immer bedrohlicher zu werden scheint. Kein Wunder, dass jede einzelne der Geschichten ein böses Ende nehmen wird. Bemerkenswert ist vor allem die Unbarmherzigkeit, mit der der Film Leib und Leben seiner Protagonistinnen bloßstellt – und zwar in jeder Beziehung. Manche Szenen erinnern sogar an einen schmutzigen Mainstream-Porno. Und dazu über allem der zynische Titel: "United States of Love". Das Drehbuch wurde auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet – eine faszinierende Zumutung.

Text: Gabriele Flossmann

INFO: PL 2016. 106 Min. Von Tomasz Wasilewski . Mit Julia Kijowska, Magdalena Cielecka.

KURIER-Wertung:

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