Handkes "Ballade des letzten Gastes": Ein Werfer, aus der Bahn geworfen
Aus den Steinen seines riesigen Baukastens, gefüllt mit fixen Ideen, Augenblicken des Triumphs und Momenten der Zerstörung, hat Peter Handke einen neuen Roman zusammengefügt – den ersten größeren Text seit „Die Obstdiebin“ (2017). Er kommt einem seltsam vertraut vor. Denn die zentrale Figur ist ein gewisser Gregor als der älteste der Brüder; der jüngere heißt wieder Hans – und die Schwester Sophie. Im dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“ (1981) hat Gregor das Haus der verstorbenen Eltern geerbt. Und auch in „Die Ballade des letzten Gastes“ ist er der Besitzer des Hauses. Die Eltern aber leben noch.
Ein-Mann-Expedition
Dieser Gregor, der seine Welt in „Ein-Mann-Expeditionen“ erkundet und dabei oft in die Irre geht, reist im September von einem fernen Kontinent (Australien?) in seine „Heimatgegend“ (Frankreich?), früher ein Dorf, heute eine „Agglomeration“. Im Gegensatz zu Valentin Sorger, der in Alaska Landschaftsformen untersucht hat, befindet sich Gregor allerdings nicht auf einer „Langsamen Heimkehr“ (1979): Sein alljährlicher Urlaub bei der „Sippe“ dauert in der Regel nur eine Woche. Auch dieses Mal. Als Höhepunkt (am siebenten Tag) ist die Taufe des Neffen vorgesehen – mit ihm als Paten.
Er hat, wie der grüblerische Valentin Sorger, einen sprechenden Namen, den uns Peter Handke erst sehr spät (auf Seite 140) kundtut. Er ist aber ein Schlüssel zu diesem anspielungsreichen Erzählwerk. Denn Gregor heißt Werfer. Und das Wort „Ballade“, das in der okzitanischen Sprache der Trobadordichtung eine Gattung des Tanzliedes bezeichnete, fußt auf dem altgriechischen Verb „ballein“, das „bewegen“ bedeutet – und auch „werfen“.
Der dritte Teil, bloß 14 Seiten lang, heißt wie Handkes Buch, eben „Die Ballade des letzten Gastes“. Er ist keine solche im klassischen Sinn, wenngleich unterteilt in nahezu gleich große Abschnitte und verfasst in einer äußerst durchrhythmisierten Sprache. Gregor rekapituliert die Ereignisse: Diese „Ballade“ ist quasi ein Remix des „Epos“ einer Irrfahrt (Handke, Homer der Neuzeit, erwähnt immer wieder die „Odyssee“ und lässt es mehrfach „zickzacken“), ergänzt um viele Details, die im Erzählstrom untergegangen wären.
Doch noch entscheidender ist eine Passage auf Seite 151. Als sinnierender Gast in einer Lokalität sei dem einäugigen Helden der Geschichte, eben Gregor, ein alter Satz – „es fiel ihm nicht ein, vom wem er stammte“ – frisch in den Sinn gekommen: „Er zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhang.“ Der Literaturnobelpreisträger weiß natürlich, woher er stammt.
In „Langsame Heimkehr“ notierte Valentin Sorger, dass der Zusammenhang möglich sei: „Jeder einzelne Augenblick meines Lebens geht mit jedem anderen zusammen – ohne Hilfsglieder.“ Genau diese Sätze erwähnt der Erzähler, beseelt von einer fixen Idee in Zusammenhang mit Paul Cézannes Zeichnungen, in „Die Lehre der Sainte-Victoire“ (1980). Und er zitiert aus dem „Armen Spielmann“ von Franz Grillparzer: „Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhange.“
Rotzglockenzieher
Alles hängt zusammen, man muss es nur „frei phantasieren“: Handke verweist mit Schauplätzen, Themen und Trigger-Wörtern auf viele seiner Werke, darunter „Zdeněk Adamec“, „Versuch über den Stillen Ort“, „Untertagblues“, „Immer noch Sturm“, „Lucie im Wald mit den Dingsda“ – und auch die „Publikumsbeschimpfung“. Denn in einer Episode bringt Gregor das Taufkind mit Schimpfwörtern wie „Furzkaspar!“, „Rotzglockenzieher!“ und „Nach zehn Jauchewagen stinkender Däumling!“ zum Lachen.
Doch dieser Gregor Werfer wird alsbald förmlich aus der Bahn geworfen: Er erhält auf dem „Taschentelefon“ die Nachricht, dass sein Bruder Hans als Fremdenlegionär erschossen wurde. Die Familie in Kenntnis zu setzen, scheut er: Er wendet sich ab, wütet im Obstgarten wie ein Berserker, flieht in die Einsamkeit – und setzt sich dann das Ziel, allabendlich in einer Gaststätte der letzte Gast zu sein.
Der immerzu gehende Autor verarbeitet nicht nur die Zeit während der Pandemie mit nächtlichen Streifzügen und Hinterzimmerlokalbesuchen, sondern auch die Geburt seines Enkelkindes. Und weiterhin beschäftigt ihn seine eigene Familiengeschichte: Handkes Onkel Gregor verschwieg bei den Fronturlauben im Zweiten Weltkrieg den Tod seines Bruders Hans. In der „Ballade vom letzten Gast“ braucht es eine quälend lange Zeit, bis Gregor in der Lage ist, seine Schwester zu informieren. Beim Abschied. Da wird das Buch beklemmend traurig.
Kommentare