Daniel Kehlmann: "Die Verheerung, die Trump angerichtet hat, ist groß"
von Gabriele Flossmann
Ein Ermittler und eine Terrorverdächtige sitzen in einem kargen Raum. Der Ermittler hat genau 90 Minuten Zeit, von der Frau zu erfahren, wo sie eine Bombe gelegt hat. Um Mitternacht soll sie explodieren. Falls es sie erstens wirklich gibt, diese Bombe. Und falls die Verdächtige auch wirklich die Täterin ist.
Sie ist Professorin und philosophiert über Gewalt als legitime Form des Protests gegen eine ungerechte Gesellschaft. Er ist Verhörspezialist und versucht herauszufinden, ob es sich bei ihren Überlegungen um ein reines Gedankenspiel handelt, oder aber ob sie in die Planung eines Terroranschlags verwickelt ist.
Matti Geschonnecks TV-Film „Das Verhör in der Nacht“ (morgen, Montag, 20.15 Uhr im ZDF) ist nach dem Theaterstück „Heilig Abend“ von Daniel Kehlmann entstanden. Der Schriftsteller hat auch das Drehbuch verfasst. Die Zuschauer können und sollen sich in diesem kammerspielartigen Wort-Gefecht zwischen Staatsschützer (Charly Hübner) und Professorin (Sophie von Kessel) selbst Gedanken machen, ob und wie es für das ewige Dilemma zwischen Freiheit und Staatssicherheit eine Lösung geben kann.
Seine Sprengkraft gewinnt der Text aus der Kollision zweier Standpunkte, die auf je eigene Weise an aktuell drängenden Problemen rühren. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob ein Zweck die Mittel heiligen darf. Wie weit darf einerseits der Staat dabei gehen, im Namen der allgemeinen Sicherheit Grundrechte zu verletzen? Und wann ist damit andererseits ein Punkt erreicht, an dem sich Bürger – notfalls mit Gewalt – gegen diesen Staat zur Wehr setzen dürfen. Die Stärke des Films wie auch des Stücks ist es, dass sich Kehlmann auf keine Seite schlägt. Das Verhör wird zum Schlagabtausch zwischen System und Systemkritik.
KURIER: „Das Verhör in der Nacht“ wurde unter dem Titel „Heilig Abend“ im Theater in der Josefstadt gespielt. Hatten Sie dieses brisante Werk schon von Anfang an als Film-Drehbuch vorgesehen?
Daniel Kehlmann: Nein, ich habe es von Anfang an als Theaterstück gesehen, weil es Situationen gibt, die an sich schon dramatische Struktur haben. Dazu gehört zum Beispiel die Gerichtsverhandlung – weshalb es ja so viele Gerichtsfilme und -stücke gibt – und das Verhör. Ich wollte ein Zweipersonenstück machen, das einfach nur aus einem Verhör besteht. Als dann das ZDF auf mich zukam und aus dem Theaterstück einen Film machen wollte, habe ich gesagt: Geht das überhaupt? Es geht ja nur um zwei Leute und man kann nicht plötzlich zusätzliche Personen aus dem Hut ziehen, um zu einem abgerundeten Ende zu kommen. Und dann wurde ich gefragt, ob ich die Drehbuch-Adaption selbst machen könnte. Ich wollte mich nicht vordrängen, aber irgendwie dachte ich: Ja, das hat schon seinen Sinn, dass ich das selbst mache!
In den Thesen des Psychoanalytikers und Philosophen Arno Gruen geht es um die verhängnisvolle Macht von Ideologien und die daraus entstehende Symbiose von Tätern und Opfern im Terrorismus. Hatten Sie dies auch im Sinn beim Schreiben?
Ich würde sogar noch weiter gehen. Es gibt bei Immanuel Kant das „irrende Gewissen“. Demnach kann jemand aus moralischen Gründen eine Entscheidung treffen und damit aber unrecht haben. Im Grunde sagt Kant: Wenn Menschen aus ihrem Gewissen heraus einem Irrtum folgen, dann ist das immer noch moralisch beeindruckend, weil es uns daran erinnert, dass es diese Dimension im Leben gibt – dass es möglich ist, dem Gewissen zu folgen. Und das ist natürlich der Grund, warum Radikale und Terroristen in der dramatischen Literatur so beeindruckende Figuren sind. Ich spreche da vor allem von linken Terroristen, weil ihre Handlungen und Taten ja – anders als bei rechten Terroristen – letztlich eine moralische Grundlage haben: Gerechtigkeit für alle. Sie zeigen uns, dass es – frei nach Kant – möglich ist, ethisch zu handeln und trotzdem unrecht zu haben.
Nach dem Terroranschlag vom 2. November in Wien soll es gemäß einer neuen Gesetzeslage möglich sein, Terroristen – so wie geistig abnorme Rechtsbrecher – lebenslänglich einzusperren. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?
Ein ideologischer Attentäter ist kein geistig abnormer Rechtsbrecher. Es ist sehr problematisch, wenn sich ein Staat herausnimmt, zu entscheiden, welche politischen Ansichten – wie radikal auch immer – nicht mehr in den Bereich von Meinungen zählen, sondern als „abnorm“ eingestuft werden. Das ist ein philosophisches Urteil, das keinem Staat zusteht.
Bei Ihrem filmischen „Verhör“ ist es beinahe unmöglich, hinter den Argumenten die Haltung von Daniel Kehlmann zu erkennen. Wie schwer ist es Ihnen gefallen, da nicht Partei zu ergreifen?
Mir hat es mehr Spaß gemacht, den Polizisten zu schreiben. Und zwar einfach deshalb, weil er zunächst mal eher als der Bösewicht identifiziert wird. Er ist gemein, er manipuliert, er ist schlau und hinterlistig – und so eine Figur macht einfach mehr Spaß als eine, die aus hohen moralischen Prinzipien heraus ihre Entscheidungen trifft. Das heißt – auf der einen Seite hatte ich für den Polizisten zwar weniger Sympathie, aber mehr Spaß an ihm (lacht). Was die ideologische Argumentation angeht, hat natürlich die Professorin mit allem recht, was sie sagt, aber Gewalt und Terror dürfen in unserer Gesellschaft nicht die Mittel sein, solche Positionen durchzusetzen. Kurz gesagt: Er hat mir als Figur mehr Spaß gemacht, aber inhaltlich war ich auf ihrer Seite. Und beides darf man dem Endprodukt nicht anmerken.
Gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem Theaterstück „Heilig Abend“ und dem Film „Das Verhör in der Nacht“?
Beim Schreiben des Drehbuchs habe ich mit dem Regisseur Matti Geschonneck jede Dialog-Zeile diskutiert, und wir haben uns auch entschieden das Echtzeit-Element, also die auf der Bühne laufende Uhr, im Fernsehen wegzulassen. Etwas in Echtzeit zu inszenieren, ist auf der Bühne spannend, im Film wäre es ein leeres Gimmick. Ich bin mit der Textfassung für den Film so zufrieden, dass ich in mein Buch „Vier Stücke“ nicht den Text der Theaterfassung, sondern den des Films aufgenommen habe.
Die gesellschaftskritische Ideologie, die Ihre Protagonistin vertritt, brachte man früher am ehesten mit der 68er Generation in Zusammenhang. Heutzutage hat man das Gefühl, dass Ideologien immer mehr von einem um sich greifenden Populismus verdrängt werden. Vor allem in der Politik. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?
Bei „Ideologie“ denke ich an Karl Marx, der diesen Begriff als „falsches Bewusstsein“ interpretiert hat. Demzufolge ist eine Ideologie grundsätzlich etwas, das man überwinden muss, denn wer will schon falsches Bewusstsein haben? Aber dass es Menschen gibt, denen Ideen noch wichtig sind – das ist etwas, worauf man nicht verzichten möchte. Und es gehört zu den erfreulichen Entwicklungen der letzten Jahre, dass es zum Beispiel in Amerika Ideen, zum Teil auch radikale Ideen gibt, wie man das menschliche Zusammenleben neu ordnen kann. Wie etwa durch eine Polizei- und Justizreform. In den Medien wird das oft so dargestellt, als wären in den USA Chaos und Verwüstung ausgebrochen, aber tatsächlich gibt es sehr starke progressive Tendenzen in der Gesellschaft, die auch die Zukunft prägen werden.
Bei unserem letzten Gespräch haben Sie noch in New York gelebt und es fiel der Satz, dass Sie überlegen, den USA den Rücken zu kehren, wenn Trump noch einmal gewinnt. Nun hat er nicht gewonnen und Sie leben trotzdem wieder in Europa. Glauben Sie, dass die Verheerung, die Trump angerichtet hat, noch viele Jahre andauern wird?
Die Verheerung ist natürlich groß, aber ich bin aus privaten Gründen wieder da. Wir hatten sowieso geplant, ein Jahr in Europa zu verbringen, damit unser Sohn auch in eine deutsche Schule gehen kann. Es ist wahrscheinlich, dass wir wegen Corona und der ganzen Situation in den USA etwas länger in Deutschland bleiben, als geplant. Wie lange das sein wird, hängt sehr davon ab, was im Januar bei den Senatswahlen in Georgia passiert. Wenn die beiden Sitze, um die es geht, an die Republikaner fallen, dann werden sie Biden vier Jahre lang blockieren und man wird die Verheerungen kaum oder gar nicht rückgängig machen können. Dann besteht die große Gefahr, dass in vier Jahren ein neues populistisches Monster – ich rechne mit Trumps Sohn, Don jr. – Präsident werden kann. Wenn diese beiden Sitze an die Demokraten gehen, dann besteht wirklich die Chance, dass sich die Lage verbessert.
Sie nehmen großen Anteil an der Politik und an den Geschehnissen dieser Welt. Sehen Sie es als Ihre Aufgabe, als Schriftsteller etwas zu bewirken?
Als Theaterautor viel mehr denn als Prosaautor. Ich weiß noch nicht, woran das liegt. Ich habe noch keine konsistente Theorie dazu. Bei Romanen habe ich immer noch das Gefühl, das einmal W.H. Auden über Gedichte so ausgedrückt hat: „Poetry makes nothing happen“. Auch Romane nicht, finde ich. Ein Roman ist ein Kunstwerk, das so gut wie möglich gelungen sein, aber darüber hinaus keine Absichten haben darf. Seltsamerweise bemerke ich, dass ich beim Schreiben für die Bühne – und natürlich auch für den Film – viel politischer denke. Vielleicht weil man da einen so unmittelbaren Kontakt zum Publikum hat. Das Stück „Reise der Verlorenen“ handelt ja auch – obwohl ein historischer Stoff zugrunde liegt – ganz eindeutig davon, wie wir heute mit Flüchtlingen umgehen. Wäre es ein Roman gewesen, hätte ich gezögert und mich gefragt: reagiere ich damit nicht zu sehr auf aktuelle Tendenzen? Aber bei einem Theaterstück oder bei einem Filmdrehbuch habe ich keine Scheu davor, politisch zu sein. Beim „Verhör in der Nacht“ hatte ich diese Scheu überhaupt nicht
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