Kehlmanns "Heilig Abend": Die Vermessung des Charakters im Kampf gegen die Uhr

Theater in der Josefstadt, die drei Hauptdarsteller von „Heilig Abend“: Maria Köstlinger, Bernhard Schir – und die Uhr
Erfolgreiche Uraufführung von Daniel Kehlmanns Verhör-Thriller "Heilig Abend".

Intime Stücke im Kammerspiel-Format werden aus gutem Grund in der Regel an Studiobühnen gezeigt. Es sei denn, das Stück verspricht, besonders viel Publikum anzuziehen – dann spielt man sie im Haupthaus, braucht aber kreative Bühnenlösungen, damit sich das Geschehen nicht im Raum verliert.

Und damit sind wir im Theater in der Josefstadt, wo Daniel Kehlmanns Verhör-Drama "Heilig Abend" uraufgeführt wurde.

Vierte Wand

Bühnenbildner Walter Vogelweider hat eine Lösung gefunden, die gleichzeitig genial und problematisch ist. Er stellte in den Bühnenraum einen durchsichtigen Kasten, das Verhörzimmer. Das Publikum sieht und hört das Geschehen diesmal durch eine echte vierte Wand (die Darsteller haben Mikrofone, klingen aber abgedämpft).

Das ist eine großartige Idee, denn der Zuschauer wird in die Position des Chefermittlers versetzt, der das Verhör, unbemerkt vom Verhörten, durch eine durchsichtige Wand überwacht und bewertet (man kennt das ja aus Filmen).

Leider folgt aus dieser an sich kreativen Lösung auch das Problem des Abends: Das Geschehen wird vom Zuschauer weggerückt – man fühlt sich distanziert.

Dieser Effekt wird durch die an sich sehr genaue, angenehm unaufgeregte Inszenierung von Hausherr Herbert Föttinger verstärkt: Das Stück gleicht mehr einem intellektuellen Duell als einem brutalen Verhör unter Zeitdruck.

Das Geschehen erinnert, selbst wenn Folter angedroht wird, manchmal an eine gemütliche Studentendiskussion, weniger an ein Ringen auf Leben und Tod: Die Vermessung von Charakter und Denkfähigkeit.

Zugegeben jedoch: Das ist Nörgeln auf hohem Niveau. Zu erleben ist ein spannender, interessanter, von Daniel Kehlmann ausgezeichnet und sehr klug geschriebener Theaterabend, der in Echtzeit abläuft, in einem Raum: Einem Ermittler bleiben genau 90 Minuten, um aus einer des Terrorismus verdächtigen Philosophieprofessorin die Information herauszupressen, wo sie die Bombe versteckt hat, die zu Weihnachten, genau um Mitternacht, explodieren soll.

Der Clou dabei ist, bis zum Ende bleibt unklar: Ist die Frau tatsächlich die kühle Fanatikerin – oder ist sie ein unschuldiges Opfer einer nicht mehr kontrollierbaren Überwachungs-Maschine?

Große Fragen

Kehlmann reißt in seinem Text viele spannende Themen an: Überwachung, Terrorismus, Folter, Medienhysterie – und auch die große Frage der globalen Gerechtigkeit: Wenn jemand aus einem Land kommt, das wegen des Uranabbaus durch westliche Firmen praktisch unbewohnbar geworden ist – ist er dann wirklich ein "Wirtschaftsflüchtling"?

Außerdem geht es hier um das klassische "Gefangenendilemma" der Spieltheorie (Menschen, die getrennt verhört werden, neigen dazu, einander zu belasten, selbst, wenn sie wenig davon haben) und um eine große Liebesgeschichte: Denn die Verdächtige hält ihrem Exmann (der unsichtbar für das Publikum im Nebenraum verhört wird) die Treue, obwohl er ein Schwächling ist. Damit ist sie die Siegerin im Kampf mit dem Ermittler, der so eine Liebe nie erlebt hat.

Bernhard Schir und Maria Köstlinger spielen richtig gut, da gibt es keinen falschen Ton. Interessant wäre es, diesen Stoff als knallharte Hollywood-Verfilmung zu sehen (etwa mit Tommy Lee Jones und Jodie Foster), als Kontrast zur Josefstadt-Version.

Am Ende gibt es dann eine überraschende Wendung – die aber wieder zwei Deutungen zulässt.

Großer Jubel für Darsteller und den Dichter.

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